7017838-1988_33_09.jpg
Digital In Arbeit

Gedrückte Stimmung

19451960198020002020

Lokalaugenschein in Siebenbürgen und in Budapest. In Transsylvanien betteln Leute um Nahrung, die Ungarn mobilisieren alle Kräfte gegen Ceauses-cus Politik.

19451960198020002020

Lokalaugenschein in Siebenbürgen und in Budapest. In Transsylvanien betteln Leute um Nahrung, die Ungarn mobilisieren alle Kräfte gegen Ceauses-cus Politik.

Werbung
Werbung
Werbung

„Kultur? Von Kultur kann man in Rumänien nicht mehr reden. Es wird nur noch über ihn geschrieben, über den Conducator. Muttersprache? Es gibt noch deutsche Schulen, doch keine Lehrer mehr. Sobald sie um Ausreise nach Deutschland ansuchen, werden sie rausgeschmissen. Ja, Hermannstadt war eine schöne Stadt. Jetzt ist sie nicht mehr schön.“

Der Mann verliert sich in Erinnerungen an seine Heimatstadt in Siebenbürgen, die er im April verlassen hat. Jetzt wartet er mit seinem Sohn in Budapest auf die Ausreise in die Bundesrepublik als einer von Tausenden der ungarischen oder deutschen Minderheit zugehörigen Flüchtlinge, die ihre Hoffnung auf ein besseres Leben in Rumänien begraben haben.

Die schlechte Versorgungslage sei für das an sich reiche Rumänien eine Schande, klagt der ehemalige Techniker. Das Dorfzerstörungsprogramm (FURCHE 27/ 1988) ergibt in den Augen der Flüchtlinge, mit denen wir in Budapest sprachen, keinen Sinn. Das offiziell verkündete Ziel, neues Ackerland zu schaffen, sei „absurd“. Bereits jetzt liege in den Staatsgütern viel Land brach, immer weniger und durchwegs alte Leute verrichten die schlechtbezahlten Arbeiten auf den Feldern.

Die verzweifelte Lage der Minderheiten, die sich in Rumänien neben einer schleichenden Zwangsassimilierung nun einer gezielten Entwurzelungspolitik ausgesetzt sehen, hat in Ungarn mit Einschränkungen (siehe Kasten) in vorbildlicher Weise alle Kräfte mobilisiert. Heuer im Februar wurde angesichts des Flüchtlingsansturms aus dem Nachbarland in Budapest ein Koordinationskomitee eingerichtet, in dem die zuständigen Behörden des Innenministeriums, die Massenorganisation Patriotische Volksfront, die Sozialämter und Magistrate, das Rote Kreuz sowie kirchliche Institutionen zusammengeschlossen sind.

Ferenc Nemeth, Leiter der Koordinationsstelle, betont: Die Zusammenarbeit zwischen den staatlichen Stellen und den privaten Hilfsorganisationen verläuft reibungslos.“ Das Rote Kreuz, das Koordinationsbüro und die Kirchen stehen in ständigem engen Kontakt und haben sich die Arbeit aufgeteilt.

Während das Rote Kreuz den Flüchtlingen finanzielle Starthilfe gibt und sich um die Familienzusammenführung kümmert, bemüht sich das Koordinationskomitee um Vermittlung von Arbeit und Unterkünften. Es ist auch für viele praktische Belange zuständig, wie Zollformalitäten für Autos, Ubersetzung von Dokumenten. Täglich kommen etwa 100 bis 150 Personen in die Koordinationsstelle.

Die religiösen Gemeinschaften, Katholiken, Reformierte und Orthodoxe, haben sich ungeachtet des Glaubensbekenntnisses der Betroffenen der persönlichen Betreuung der Flüchtlinge angenommen.

Die ungarische Regierung leistet offiziell Flüchtlingshilfe, so Läszlö Albrecht, der im Innenministerium für Flüchtlingsfragen verantwortlich ist. Seit dem Früh-jahr wurden zirka 6.300 Aufenthaltsgenehmigungen für Rumänen-Flüchtlinge ausgestellt, die laut amtlicher Diktion „ihre nationalen Rechte und Gefühle unter den gegenwärtigen Umständen nicht verwirklichen können“.

Sie erhalten zu gleichen Bedingungen wie die ungarischen Staatsbürger eine Sozialversicherung und haben Anspruch auf Sozialleistungen.

Das Problem der Einstufung als Wirtschaftsflüchtlinge, wie dies im Westen für Ostflüchtlinge gang und gäbe ist, stellt sich im Falle der Rumänien-Ungarn nicht. „Ungarn ermutigt aber die Siebenbürger Magyaren keineswegs zum Verlassen der Heimat“, stellt Albrecht fest. Man sieht sich außerstande, die etwa zwei Millionen Magyaren aus Transsylvanien aufzunehmen, gar loszukaufen. Familienzusammenführung funktioniere praktisch nicht und schaffe gravierende Probleme.

Scharfe Kritik übt Albrecht an den Umsiedlungsplänen der Bukarester Führung, der außenpolitische Ausschuß des ungarischen Parlaments hat Protest gegen die Mißachtung fundamentaler Menschenrechte erhoben, die ungarische Delegation auf dem Wiener KSZE-Folgetreffen hat die Ceausescu-Pläne als in Widerspruch zur Helsinki-Akte stehenden Eingriff angeprangert.

Mit einer baldigen Verbesserung der Lage wird im Budapester Innenministerium nicht gerechnet. Das offizielle Rumänien habe bisher „nur negative Antworten“ parat gehabt, bedauert Albrecht. Die Schließung des ungarischen Konsulats in Klausen-burg/Kolozsvär/Cluj spricht eine deutliche Sprache. Und die ungarisch-rumänische Grenze ist in einer Richtung dichter geworden als einst der Eiserne Vorhang: Ungarn dürfen nicht ins Bruderland, und Flüchtlingen ist eine Rückkehr nicht gestattet.

Albrecht schätzt, daß seit einem halben Jahr durchschnittlich 40.000 rumänische Touristen pro Monat nach Ungarn kommen. Zehn bis zwölf Prozent dürften illegal über die Grenze gelangen.

Erste Anlaufstelle der Rumänienflüchtlinge ist das Rote Kreuz. Dort erhalten sie Hilfestellung bei der Job- und Wohnungssuche, und fürs erste einen kleinen Geldbetrag. Auf ein Spendenkonto des Roten Kreuzes in Budapest sind bis jetzt 8,2 Millionen Forint (rund zwei Millionen Schilling) eingegangen.

Ein großes Problem ist die Wohnungssuche. Allein in Budapest warten rund 50.000 Ungarn auf eine Wohnung; nicht selten schon seit Jahren. Man fürchtet den Neid der Bevölkerung, würde man Flüchtlinge bevorzugt behandeln.

„Die Flüchtlinge benötigen auch menschliche Hilfe und das persönliche Gespräch.“ Pastor Tivadar Pängzel von der Reformierten Kirche in Budapest unterstützt die Siebenbürgener sowohl finanziell als auch moralisch.

Am meisten hoffen die Flüchtlinge auf eine Normalisierung der politischen Lage in Rumänien, die eine Gleichberechtigung der Nationalitäten mit sich bringen müßte. „Aber dazu fehlt noch immer der politische Wille“, so Pängzel.

Uber Kontakte mit Pfarreh in Rumänien bewahren katholische und evangelische Geistliche in Budapest Schweigen. Darüber zu sprechen, könnte gefährlich werden für die Mitbrüder und Mitschwestern im sozialistischen „Bruderland“.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung