7045263-1990_30_08.jpg
Digital In Arbeit

Gefährl icher Tum

Werbung
Werbung
Werbung

Ich muß die beiden Gebäude sehen. Von weitem sehen sie aus wie ein ländliches Anwesen. Das war es wohl auch einmal. Bauernhäuser sind es nicht .. Das eine, langgestreckte? Vielleicht war es einmal ein Wirtschaftsgebäude mit einem Stall. Das andere ist ein Turm; quadi-atisch, wuchtig, rund zehn Meter hoch. Ich kriege Herzklopfen, das gleiche, das ich bekam, als ich das erste Mal vor unserem Haus in Puch stand und wußte: hier.

Ich sehe zu dem Turm auf. „Ich möchte hineingehen", sage ich und fürchte deinen Widerspruch. Du gehst schweigend mit. Das Tor ist versperrt, aber von einer Gittertür in der Südmauer hat einer Schloß und Kette heruntergerissen. Sie. steht ciffen. Wir kommen in einen großen Raum zu ebener Erde mit. einem riesigen stuckverzierten Kamin. Man kann sich eine hölzerne Kassettendecke dazu vorstellen, die nicht mehr da ist.

Mindestens vierhundert· Jah-· re", sage ich. Drei große Fenster sind vermauert. Wir steigen eine Treppe hinauf, neun Stufen, biegen im rechten Winkel in eine längere ein, sechzehn Stufen,: bis der Aufgang unter einem gotischen Spitzbo·gengewölbe endet. Schießscharten in den Mauem. Der obere Raum ist so schön wie der unter????. die gleichen großzügigen Proportionen. Durch vier offene Fenster fällt Licht, viel Licht. Unten, in der dicht und dornig bewachsenen Wildnis, liegen noch zwei Gebäude, dachlos. Vom einen stehen noch drei Mauern, vom anderen nur noch eine. Unter der Decke dieses Raumes läuft ein dikker Baumstamm als Stütze von einer Mauerseite zur anderen. Die .????üd„

Mauer ist von einem' tiefen Riß durchzogen. Eine weitere Treppe führt weiter nach oben. Bevor ich auf sie zugehen kann, ergreift mich das lähmende Traumgefühl, das vor morschen Böden warnt. Wenn der Traum -es schlecht mit uns meint, müssen wir sie betreten, brechen durch zu einem Traumsturz ohne Ende, erwachen vor dem tödlichen Aufschlag, starr

vor Schrecken. Bevor ich noch einen Schritt tun kann - und ich will ihn tun - sagst du von der Türöffnung her: „Bitte geh' da nicht weiter." Jetzt sehe ich: der Boden ist nicht nur papierdünn an manchen Stellen, .er hat Löcher. Wir kehren um. Als wir die Treppe hinuntersteigen, unterder schönen Wölbung des Gemäuers, fällt mir ein, wie wir vor ein pa,ar Wochen auf den Treppen E!ines neuen Hauses herumbalancierten: Achtung, noch ohne Geländer. Der Rohbau stand erst, das Dach war gerade gedeckt worden.

Die gleichen G????fahren hier wie dort - und die völlig entgegengesetzten Gefühle. Hier ein Neues, im Werden begriffen, auf Zukunft hin, dort ein Jahrhunderte altes, befrachtet von gelebtem Leben, Vergangenheit, dem Verfall preisgegeben.

Und wie alle Häuser einmal - Ich bleibe stehen, sehe Kinder unter den kahlen Bäumen, auf dem grünen Rasen, die einander suchen und finden. Ich sehe den jungen Mann in der Nische der Treppe. Sein Spitzenkragen und das Gesicht des. blutjungen Mädchens leuchten :weiß aus der Dämmemng

und Schultern, bis sie zusammenfällt wie unter Kolbenhieben, eine - Festung, die nicht mehr erobert, die nur noch geschleift werden muß. Ich sehe die Frauenhand vor dem Kaminfeuer, wie sie das goldene Oval ihres Fingerrings abhebt, das Pulver in einen :Sech er schüttet, den sie in hastigen Zügen leert. Sie stürzt in das Aufrauschen ihres Kleides, geht unter

Ich höre Pferdegetrappel und das Heulen von Hunden im Wald, das Aufeinanderklirren von Degen und den Schrei, der die Nacht zerreißt. Ich sehe den steinalten Mann, der nichts hat als seine Bücher und die flackernden Kerzen auf den Leuchtern. Er geht auf und ab vor dem Kaminfeuer, steifbeinig, mit klopfendem Stock, bleibt vor einem Bild an der Wand stehen: ein blutjunges Mädchen

????????mm!" rufst du. Wir gehen die letzten Stufen hinunter, ins Freie. Du hältst meine Hand. Fester als sonst. · Vor dem Turm weist du aUf ein Schild: „Edificio pericoloso" steht in schwarzen Buchstaben auf weißem Grund und darunter, groß und rot: „Pericolo!"

Es ist inein Turm geworden. Man muß nicht alles haben, um es zu besitzen. Dies schreibe ich im Zimmer eines Hotels in Norditalien, durch eine Luftlinie von 500 Metern von meinem Turm entfernt.Die Umgebung: Wiesen, Hügel, frisch umbrochene Äcker. Die schönen alten Bäμme sind meterhoch über das Dach hinausgewachsen. · Dies schreibe ich im Turmzimmerdes obersten.Stocks, das ich nie bet:r:eten habe .

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung