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Gefährliche Freundschaft

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Die „ewige Freunschaft“ zwischen der Tschechoslowakei und der Sowjetunion dauerte von 1948, als die Kommunisten in der CSSR an die Macht kamen, bis August 1968, als fünf Armeen des Warschauer Paktes nach Prag einmarschiert waren, um die Prager Reformbewegung zu erwürgen und die von der politischen Entwicklung in der CSSR auf nur zwanzig Jahre befristete „Ewigkeit“ ein wenig zu verlängern.

Seit dem Scheitern des Prager Frühlings wird die Parole von der

„ewigen Freundschaft“ zwischen Prag und Moskau vom Volk ironisch formuliert: „Schon wieder einmal auf ewige Zeiten mit der UdSSR!“

In der Zeitrechnung haben die sowjetischen Ideologen und Militärs seit 1956 einen neuen Begriff erdacht und in die praktische Machtpolitik eingeführt: Er heißt „Zeitweiligkeit“ oder „zeitweilig“, russisch wremjenost oder wremjenoje. Die „wremjenaja“, also die zeitweilige sowjetische Okkupation von Ungarn, dauert nun schon 32 Jahre. Am 21. August 1988 wird die tschechoslowakische Abart der von den Sowjets eingeführten Zeiteinheit, die „wremjenost“, mit der sie die militärische Okkupation eines sogenannten „Bruderstaates“ messen, zwanzig Jahre alt.

Es gibt weder in Prag noch in Moskau einen Grund zu feiern.

Ohne Gorbatschows Perestrojka und Glasnost wäre das Jubiläum der böhmischen „wremjenost“ zwanzig Jahre nach dem Scheitern des Prager Frühlings wohl schon halb vergessen. Nun aber, von Michail Gorbatschow angeregt, erinnert man sich wieder: Alles für den Westen Aufregende und Neue, was Genosse Gorbatschow in den vergangenen drei Jahren gesagt und geschrieben hat, hätte er von den Prager Reformern des Jahres 1968 abschreiben können; und er hat es wohl auch getan — ob bewußt oder unbewußt, das spielt keine Rolle.

Genau wie die sympathischen Prager Träumer von einer gerecht reformierten sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft, steht 20 Jahre nach Dubcek auch Genosse Gorbatschow i%n Bann einer Illusion: Er glaubt ein System reformieren zu können,“ das nur dann zu reformieren wäre, wenn es auf die Herrschaft der marxistisch-leninistischen Ideologie in allen Bereichen des Lebens verzichten könnte.

Genau wie die Prager Reformer des Jahres 1968 kann auch Genosse Gorbatschow im heutigen Moskau nicht das endgültige Scheitern der Ideologie zugestehen und sich von ihr trennen.

Genau wie Alexander Dubcek vor 20 Jahren ist der sowjetische Generalsekretär heute dazu verurteilt oder gar verdammt, auch dann an der unbrauchbaren sogenannten revolutionären und einzig fortschrittlichen marxistischleninistischen Ideologie festzuhalten und ihre Anwendung in gesellschaftspolitischen und ökonomischen Bereichen zu beschwören, wenn sie seit Jahrzehnten nur Katastrophen und Krisen produziert.

Das überzeugendste Beispiel: Seit mehr als 70 Jahren hat der Marxismus-Leninismus in der UdSSR kein einziges politisches oder ökonomisches Problem gelöst, sondern weitere, heute unlösbare Probleme geschaffen. Einer offenen Konfrontation mit diesen Tatsachen geht genau wie einst Dubcek mit seinen Reformern auch Genosse Gorbatschow aus dem Weg.

Aus unbegreiflichen Gründen, besser gesagt aus einer ideolo-

Angst vor Reformen gisch bedingten Sentimentalität, sehen sich die Prager Reformer heute von Gorbatschows Perestrojka nachträglich bestätigt oder gar rehabilitiert.

Auch dies ist — leider — wieder eine Illusion, denn Gorbatschow wiederholt heute fast nur dieselben Irrtümer, die zum Scheitern des Prager Frühlings führten: Er will ein System reformieren, das nicht reformierbar ist oder das ein bedeutender Teil der Bevölkerung überhaupt nicht reformiert, sondern abgeschafft sehen will.

In einer aussichtslos schwierigen, j a f ast bitter-ironischen ideologischen Lage befinden sich heute die Prager Genossen an der Macht. Auf der einen Seite möchten sie ideologisch an Gorbatschows Umgestaltung gelehnt auch ihre verkümmerte Wirtschaft ein bißchen reformieren. Aber die Genossen in Prag haben vor Reformen eme unheimliche Angst.

Der Spuk und der Schock des Prager Frühlings sitzt ihnen tief im Kopf. Die Lehre aus der Vorgeschichte des Jahres 1968 warnt die Genossen vor dem Wort „Reform“, denn der Prager Frühling begann ja mit dem Versuch einer ökonomischen Reform und endete mit einem allgemeinen Ruf nach Freiheit und nach einer richtigen, nicht „volksdemokratischen“ Demokratie.

Gorbatschow bereitet den Genossen im Prager ZK der KP nur Sorgen und ideologische Plagen: Vor 20 Jahren schickte Moskau seine Panzer, um der Prager Reformbewegung den Hals umzudrehen. Zwei Jahrzehnte später wünschen sich die Bürger in der CSSR mehr Druck aus Moskau auf die ideologisch versteinerten Genossen in Prag, damit diese endlich das zulassen, was sie seit 1969 mit allen gewalttätigen Mitteln bekämpfen: Die Wiedergeburt oder eine neue Auflage eines Prager Frühlings, diesmal nicht unter Dubceks, sondern unter Gorbatschows Führung.

Die böhmische Geschichte spielt den Genossen in Prag wieder einmal einen ironischen Streich: Auf der einen Seite wollen sie das zwanzigste Jubiläum der sowjetischen „wremjenost“, der zeitweiligen Okkupation, aus verständlichen Gründen vergessen, auf der anderen Seite werden sie von Moskau an das Jahr 1968 ständig erinnert.

Bezüglich der Theorie des Marxismus-Leninismus ist für die Prager Genossen Moskau noch immer das große Vorbild; in der Praxis, wie sie sich in der UdSSR unter Gorbatschow entwickelt hat, riechen sie ideologische Teufelsbrut.

Noch vor wenigen Jahren haben sich die Apparatschiks in Prag wohl tatsächlich eine „ewige

Freundschaft“ mit der UdSSR gewünscht. Von dieser Art einer pervertierten „ewigen Freundschaft“ war und ist nämlich ihr politisches Schicksal abhängig.

Heute jedoch wünschen sie sich mit Gorbatschow und mit seiner Reformbewegung eher eine zeitweilig kurze Freundschaft. Ja, die sowjetischen Freunde sind heute auch nicht mehr das, was sie einst gewesen sind.

Ideologische Teufelsbrut

Sie sprechen und schreiben in Moskau offen von der Notwendigkeit einer Aufarbeitung und Revision des sowjetischen Standpunktes zum Prager Frühling 1968 — und das gefällt den herrschenden Genossen in Prag überhaupt nicht.

Der Autor, bekannter tschechischer Romancier, während der Dubcek-Ara führender Kämpfer für eine Erneuerung in Prag, lebt seit 1968 in München.

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