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Gefährliches Gerede

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Es gehört heute nachgerade zum guten Ton, von der Krise der Demokratie zu sprechen. Wohin man hört und was immer man liest, von überall her ertönt das gleiche Lied.

Dabei ist es an und für sich ja keineswegs erstaunlich, daß die Gegner und Feinde der Demokratie mit großem Stimmaufwand und in steter Regelmäßigkeit die Krise der Demokratie beschwören. Es wäre ja auch wirklich zuviel verlangt, ausgerechnet von ihnen zu erwarten, daß sie womöglich die Vorzüge dessen, was sie zerstören und vernichten wollen, nämlich die parlamentarische Demokratie, loben und preisen.

Um so verwunderlicher, ja fürwahr völlig unverständlich und geradezu widersinnig ist es, wenn viele derer, die von den Vorzügen, die die Demokratie gegenüber allen diktatorischen Systemen welcher Farbe immer aufzuweisen hat, durchaus überzeugt sind oder die zumindest, wenn sie schon keine überzeugten Anhänger des demokratischen Systems sind, die Früchte eben dieses Systems nicht ungern genießen, in das gleiche Horn stoßen und gleichfalls, ohne sich offensichtlich auch nur im geringsten Gedanken darüber zu machen, was sie damit anrichten können, von der Krise der Demokratie reden.

Es mag sehr hart klingen, wenn ich sage, daß ich das gedankenlose Nachbeten des Stehsatzes von der Krise der Demokratie nicht nur für völlig unverständlich, sondern darüber hinaus — speziell wenn diese Aussage aus dem Munde von verantwortlichen Politikern und von angesehenen Journalisten kommt — für äußerst unzweckmäßig, ja geradezu für ausgesprochen gefährlich halte.

Darf es uns, die wir das Glück haben, in demokratischen Gemeinwesen leben zu dürfen, unter diesen Umständen wirklich wundern, wenn uns Männer wie Alexander Solsche-nizyn und Wladimir Maximow (die sehr wohl berufen und in der Lage sind, eine gültige Aussage über den Unterschied zwischen einem demokratischen System und einem solchen, in dem den Bürgern auch nur die primitivsten Menschen- und Freiheitsrechte vorenthalten werden, zu machen) vorhalten, daß wir selbst es sind, die dazu beitragen, unser freiheitliches System leichtfertig aufs Spiel zu setzen — ?

Wladimir Maximow trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er feststellt: „Die Demokratie ist selbstverständlich nicht in der Krise, aber sie steht vor der einzigartigen Wahl, zu kämpfen oder langsam zu kapitulieren.“

Es kann uns nur guttun, wenn wir uns mit der in diesem Satz enthaltenen Feststellung ernsthaft auseinandersetzen. Hiebei kann ich mir sehr wohl vorstellen, daß es in unseren Demokratien so manche geben wird, die über diesen Satz aber schon gar keine Freude empfinden. Wer von denen, die in relativem Wohlstand oder gar in satter Trägheit dahinleben, hat es schon gerne, mit solch schockierenden Feststellungen konfrontiert zu werden?

Ich pflichte Maximow vollkommen bei, wenn er sagt, daß die Demokratie selbstverständlich nicht in der Krise ist. Und trotzdem ist das Schlagwort von der Krise der Demokratie einfach nicht auszurotten. Es wird vielmehr von allen möglichen Leuten, zu denen auch recht namhafte Journalisten zählen, immer wieder geradezu gläubig nachgebetet, als ob diejenigen, die dies tun, nicht wüßten, daß es gar nicht so wenigen Menschen, die an und für sich kerngesund sind, schließlich und endlich gelingt, wirklich krank zu werden, wenn sie sich ihre Krankheit genügend lang einreden oder einreden lassen.

Ich frage mich allerdings: Besteht diese Krise womöglich darin, daß gerade die Demokratien des freien Westens nicht nur den Wiederaufbau nach dem beispiellosen Zusammenbruch des Jahres 1945 in großartiger Weise gemeistert haben, sondern daß sie mittlerweile auch den Nachweis erbrachten, daß sie nicht nur in der Lage sind, ihren Bürgern einen angemessenen Wohlstand, sondern vor allem auch jenes Maß an Sicherheit zu gewähren, das die unumgängliche Voraussetzung für ein Leben in Freiheit ist?

Genau darum, um dieses Leben in Freiheit, geht es letzten Endes für jeden von uns. Nach all den Erfahrungen, die gerade die Älteren unter uns in den letzten Jahrzehnten gemacht haben, muß doch eigentlich für jeden, der sich auch nur einen Funken Objektivität bewahrt hat, ohne jeden Zweifel feststehen, daß einzig und allein die Demokratie in der Lage ist, dem Menschen jenen Freiheitsraum zu sichern, den er braucht, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Gerade dem Österreicher wird diese Erkenntnis infolge der Randlage seines Landes besonders leicht gemacht.

Ich lege mir in diesem Zusammenhang immer wieder die Frage vor, ob sich denn diejenigen, die das Schlagwort von der Krise der Demokratie gedankenlos übernehmen, auch nur im geringsten darüber im klaren sind, daß sie damit unser demokratisches System als solches in Frage stellen, wobei ich überzeugt bin, daß den meisten von ihnen nichts ferner liegt als das. Was jedoch noch weitaus gefährlicher ist: Sie arbeiten damit gerade jenen direkt in die Hände, die sehr wohl mit Vorbedacht darauf aus sind, die parlamentarische Demokratie und die in den Ländern des freien Westens bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse radikal zu verändern, wenn nicht überhaupt von Grund auf zu zerstören.

Es ist völlig unbestritten, daß auch dem System der parlamentarischen Demokratie Mängel und Fehler anhaften. Wir alle, die wir in Demokratien leben, wissen nur zu gut, daß immer wieder die Notwendigkeit besteht, Verbesserungen vorzunehmen, und daß eine ständige Anpassung an den rasanten Wandel, von dem auch die Demokratien selbstverständlich nicht verschont bleiben, vorgenommen werden muß. Jede Institution, die von Menschen für Menschen geschaffen wurde, unterliegt der Notwendigkeit einer ständigen Erneuerung und einer immerwährenden Fortentwicklung. Dies gilt im besonderen Maße für die Demokratie.

Die große Aufgabe aller derer, die an sie glauben, besteht darin, einen Beitrag zu ihrer Fortentwicklung und damit zu ihrer Festigung zu leisten. Worin dieser Beitrag bestehen kann? Reden wir nicht nur davon, daß diejenigen, die Macht ausüben, wirkungsvoll kontrolliert werden müssen, daß der Kompromiß ein integrierender Bestandteil in einer pluralistischen Gesellschaftsordnung sein muß und daß die Mitsprachemöglichkeiten des Bürgers ausgestaltet werden müssen.

Tun wir auf diesen und auf noch manch anderen Gebieten mehr als bisher — und Schlagworte wie das von der „Krise der Demokratie“ erledigen sich dann ganz von selbst.

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