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„Gefälligst Bleibarren schleppen!“

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In den sechziger Jahren ließen sich in der Sowjetunion Konflikte und Spannungen beobachten, die aus mehreren Gründen Beachtung verdienen. Nach Stalins Tod waren es Schriftsteller und Künstler — teils wie Ilja Ehrenburg der älteren Generation angehörend, doch überwiegend jüngere Menschen —, die im Gefolge des bekannten „Tauwetters“ nach dem XX. Parteitag (1956) forderten, einen Schlußstrich unter die terroristischen Ausschreitungen, die rechtlichen Knebelungen und kulturellen Zensurmaßnahmen der Jahre des Stalinismus zu ziehen. Die Maßnahmen gegen die Geheimpolizei, in deren Verlauf auch einige der Hauptschuldigen für den Terror hingerichtet wurden, die posthume Rehabilitierung vieler unschuldig Liquidierter, die Freilassung von Konzentrationslagcrinsassen — diese, allerdings unvollständige Abrechnung mit der Vergangenheit rief weitere Erwartungen und Hoffnungen wach.

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In den sechziger Jahren ließen sich in der Sowjetunion Konflikte und Spannungen beobachten, die aus mehreren Gründen Beachtung verdienen. Nach Stalins Tod waren es Schriftsteller und Künstler — teils wie Ilja Ehrenburg der älteren Generation angehörend, doch überwiegend jüngere Menschen —, die im Gefolge des bekannten „Tauwetters“ nach dem XX. Parteitag (1956) forderten, einen Schlußstrich unter die terroristischen Ausschreitungen, die rechtlichen Knebelungen und kulturellen Zensurmaßnahmen der Jahre des Stalinismus zu ziehen. Die Maßnahmen gegen die Geheimpolizei, in deren Verlauf auch einige der Hauptschuldigen für den Terror hingerichtet wurden, die posthume Rehabilitierung vieler unschuldig Liquidierter, die Freilassung von Konzentrationslagcrinsassen — diese, allerdings unvollständige Abrechnung mit der Vergangenheit rief weitere Erwartungen und Hoffnungen wach.

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Der Wille der jungen Intelligenz, die ganze Wahrheit über die Vergangenheit zu erfahren und zugleich auch ihre Forderung nach Garantien dafür, daß sich die Schrecken der Vergangenheit nie mehr wiederholen könnten, waren charakteristisch für 'jene Zeit. Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre strebte diese Woge des Erwachens und der Erneuerung einem Höhepunkt zu. Verwundert konnte man feststellen, daß sich die rebellierende schöpferische Intelligenz in allen Unionsrepubliken zu Wort meldete.

In dieser Zeit fanden in Moskau die berühmt gewordenen (und später verbotenen) Dichterlesungen statt, zu denen Zehntausende von Menschen zusammenströmten;- unter freiem Himmel wurden am Denkmal Maja-kovskijs Gedichte deklamiert. Jew-genij Jewtuschenkos kritische und aufrüttelnde Gedichte rissen die Zuhörer mit, in Mittelasien erregte Ol-schas Sulejmenov mit seiner Gedichtsammlung „Meine Anschrift: Asien“ Aufsehen, in der Ukraine schloß sich zur gleichen Zeit eine Gruppe von Künstlern und Dichtern als „Schestidesjatniki“ (Sechziger) zusammen, um sich schon durch diesen Namen von der Vergangenheit abzusetzen.

Doch dann kam die Reaktion des Parteiestablishment — Chruschtschow marschierte auch hier an der Spitze. Der Partei- und Regierungschef trommelte Treffen der Partei- und Staatsführung mit der schöpferischen Intelligenz zusammen, sein Ideologe Iljitschew umriß die geltende Parteilinie und die von der Partei gesetzten Grenzen, die nicht überschritten werden durften (Dezember 1962 und März 1963). Chruschtschows Dogmen lauteten: das Problem des Stalinismus ist bei uns gelöst, wir haben ihn in verschiedenen Parteidokumenten verurteilt; Antisemitismus gibt es bei uns nicht, auch keine nationale Unterdrückung; das literarische wie das kulturelle Leben überhaupt haben ausschließlich dem Aufbau des Kommunismus zu dienen, d. h. es gelten die Normen des sozialistischen Realismus, andere Richtungen können nicht geduldet werden; Zensur und Leitung durch die Partei sind deren unverzichtbare Steuerungsmechanismen; wir können nicht gestatten, daß Schriftstellerverbände zu Interessenvertretungen werden, sie sind und bleiben Transmissionsriemen der Parteiführung.

Dieser harte Kurs bediente sich auch entsprechender repressiver Methoden, die vom Publikationsverbot bis zu Verhaftungen und Verurteilungen reichten. Es sei hier nur an den Leningrader Dichter Jossif Brodskij erinnert, der Anfang 1964 zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde und dem man unter anderem vorwarf, er habe seine Werke im Westen veröffentlichen lassen.

Hier ist zu betonen, daß die Rückkehr zu repressiven Methoden noch in Chruschtschows Amtszeit fiel. Seine Behauptung „Bei uns gibt es keine politischen Gefangenen!“ war eine Lüge, denn junge Intellektuelle begannen die sogenannten Besse-rungs-Arbeitskolonien mit verschärftem Regime zu füllen. Der einzige Grund ihrer Verfolgung: sie dachten anders.

Neben der literarischen Opposition traten seit etwa 1960 immer stärker auch andere Gruppen auf den Plan und begannen bald, Schriftsteller und Künstler in den Hintergrund zu drängen. Das Schwergewicht verlagerte sich mehr und mehr auf Wissenschaftler und auf die technische Intelligenz, unter ihnen viele Partei-und Komsomolmitglieder. Es bildeten sich Zirkel, von denen einige die klare Tendenz zur Bildung politischer Gruppen erkennen ließen. Damit setzte die zweite Entwicklungsphase einer intellektuellen Opposition in der Sowjetunion ein. Elitegruppen wissenschaftlicher und technischer Richtung hatten sich gebildet, die auf Grund ihrer Ausbildung und Stellung qualifiziert waren, als Fachleute ihres Gebietes ein eigenes kompetentes Urteil über den besten Weg in die Zukunft abzugeben. Der in der Stalin-Zeit etablierte Kührungsstil der Partei, gekennzeichnet durch ausgeprägte Tendenz zur Bevormundung, zur autoritären Steuerung und durch eine erneut wachsende Tendenz zur Bespitzelung mußte zwangsläufig auf den Widerstand der Facheliten stoßen und auf Schritt und Tritt Konflikte mit ihnen hervorrufen.

Die Flut von Repressalien, die nach Chruschtschows Sturz stark anschwoll, löste bei diesen Gruppen Widerstand und Proteste in einem Ausmaß aus, das die Parteiführung nicht erwartet hatte. Die Untergrundpublikation „Chronik der laufenden Ereignisse“ und verschiedene einzeln erscheinende Veröffentlichungen registrierten die Protestbriefe, die vor allem Unterschriften von Wissenschaftlern, Ingenieuren und Angehörigen anderer Gruppen der Intelligenz trugen. Registriert wurden Protestbriefe an die sowjetischen Partei- und Staatsbehörden wie der „Brief der 90 Mathematiker“ (Protest gegen die Zwangseinweisung des Mathematikers A. S. Wol-pin in eine Nervenklinik) oder ein Brief aus Obninsk, dem naturwissenschaftlichen Forschungszentrum in der Nähe von Kaluga, wo 1955 das erste sowjetische Atomkraftwerk den Betrieb aufnahm, den 170 Wissenschaftler unterzeichnet hatten. Verbreitet wurde auch ein „Nowosibirsker Brief“, der die Unterschriften mehrerer Wissenschaftler trägt, die der bekannten Sibirischen Filiale der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Nowosibirsk angehören. Weiter zu erwähnen ist der „Brief der 80“, ebenfalls von Wissenschaftlern unterzeichnet.

Als 1965 und 1966 in der Ukraine eine große Zahl von Prozessen gegen Angehörige der Intelligenz stattfand, wandten sich 134 ukrainische Intellektuelle an die Partei- und Staatsführung der UdSSR, unter ihnen zahlreiche bekannte Naturwissenschaftler. Dies sind nur einige Beispiele für die große Menge politischer Protestaktionen.

Die Partei versuchte, in verschiedenen Wissenschaftszentren Säuberungen durchzuführen. Im berühmten „Akademgorodok“ bei Nowosibirsk gab das Akademiemitglied R. Sagdejew die Parole aus: „Raus mit ihnen aus der Akademie, sollen sie gefälligst Bleibarren schleppen!“ In Nowosibirsk löste man auch die Abteilung für mathematische Linguistik an der Universität wieder auf, da einige Professoren ihren Protest geäußert hatten.

1967 und 1968 zeitigten einige internationale Ereignisse und Entwicklungen weitreichende Auswirkungen auf die sowjetische Intelligenz. Im Juni 1967 siegte Israel im Sechstagekrieg, worauf die Parteibürokratie eine regelrecht hysterische Anti-Israel-Kampagne startete, die in den Republiken mit einer starken jüdischen Bevölkerungsgruppe deutlich antisemitische Züge hatte. Die Auswirkungen davon waren doppelter Natur. So verstärkte sich einerseits der Widerstand der sowjetischen Juden, die das Recht auf Auswanderung nach Israel verlangten, anderseits versuchten nichtzionistische Angehörige Israel gegeii Arischuldfgtm^eri «ff» der sowjetischen Presse zu verteidigen.

Bis in ihre Grundfesten erschüttert wurde die sowjetische Intelligenz dann im darauffolgenden Jahr durch die bekannten „Ereignisse“ in der Tschechoslowakei; Die Invasion wurde als ein „aggressiver Akt“ verurteilt und auf vielfältige Weise gegen sie protestiert. Angeregt durch Dub-ceks Reformbestrebungen, verfaßte im Juni 1968 A. D. Sacharow, weltbekannter Atomwissenschaftler und Mitglied der Akademie der Wissenschaften, seine „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und intellektuelle Freiheit“, eine Abhandlung, die in der Sowjetunion im Untergrund und später im Westen in allen Weltsprachen verbreitet wurde. Sacharow geht darin kritisch und detailliert den Mängeln des Sowjetsystems nach, die es daran hindern, den Anforderungen der heutigen Zeit in vollem Umfang gerecht zu werden.

Die Parteiführung hat selbst dazu beigetragen, daß sich unter den Intellektuellen oppositionelle Fronten herausbildeten, und zwar durch ihre drakonischen Repressalien, durch ihre mangelnde Bereitschaft, sich einer Diskussföri zu stelleri, ünjlurch ihre permanenten Bedrohungen gegenüber allem, was mit neuen Ideen und Zielen verbunden ist.

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