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Gefahren sehen und Auswege suchen

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Nach Nikolaus Lobkowicz und Peter Marginter nimmt der ehemalige Chefredakteur der „AZ“ zur Frage Stellung, ob unsere Gesellschaft noch eine gemeinsame Wertebasis hat.

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Nach Nikolaus Lobkowicz und Peter Marginter nimmt der ehemalige Chefredakteur der „AZ“ zur Frage Stellung, ob unsere Gesellschaft noch eine gemeinsame Wertebasis hat.

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„Werdet zahlreich wie der Sand am Meer“ und „Macht Euch die Erde untertan“ — was für ermutigende Aufforderungen im Alten Testament! Wir haben uns auch brav daran gehalten und siehe, zumindest mengenmäßig betrachtet, waren sie ein Erfolgsrezept für Jahrtausende. Jetzt wimmeln wir in viereinhalb Milliarden Exemplaren über die Erde und sind in ihre unwirtlichsten Regionen, ja selbst in die Tiefen der Meere vorgedrungen, um uns

von dort kostbare Rohstoffe zu holen.

Schränken wir ein: Die allgegenwärtigen, flinken Lagerhausräuber sind nur eine Minderheit: die Bewohner der Industrieländer. Ein Fünftel der Weltbevölkerung beansprucht vier Fünftel der Weltproduktion an den wichtigsten Rohstoffen und fossilen Energieträgern Kohle, öl, Erdgas, Uran für sich. Vier Fünftel der Menschheit müssen mit dem Rest auskommen — oder verhungern: ein Schicksal, das jährlich viele Millionen von ihnen trifft.

Diese eine Verhältniszahl zeigt jedem, der sehen will, daß unsere Industriegesellschaft, die wir ob ihrer großartigen Errungenschaften preisen, auf schrecklichem Unrecht gegründet ist. Doch wie’ viele wollen sehen?

Das Gebot der Nächstenliebe wird von allen Kanzeln des christlichen Abendlandes verkündet. Kann man es in dieser Gesellschaft— außer im engsten Famili- en- und Freundeskreis — überhaupt beachten? Ist diese Gesellschaft nicht auf gnadenlosen Konkurrenzkampf eingestellt? So sehr, daß šie ohne diesen Kampf zusammenbrechen müßte?

Kampf wächst aus Mißtrauen, Angst, Haß. Wer Mißtrauen und Haß predigt, gilt als Realist. Wer Vertrauen und verständnisvolle

Zuwendung zum anderen, zum Fremden — der stets der mögliche Feind ist — fordert, wird als Träumer belächelt, als nützlicher Idiot verspottet, als Agent verteufelt. Zwar ist der Respekt vor dem menschlichen Leben innerhalb der Nation noch unbestritten. Wir bestrafen Mord und Totschlag, wie sich das in zivilisierten Ländern gehört. Aber in eben diesen zivilisierten Ländern ist der Völkermord sorgfältig geplante und vorbereitete Strategie der Generalstäbe.

In der Tat ist der Rüstungswahnsinn nur der äußerste Exzeß der Industriegesellschaft: nur im Ausmaß, nicht im Grundsatz verschieden von der Vernichtungswut der Wachstumswirtschaft. Die Großmaschinen und Großgiftküchen der Industrie schaffen die Sachzwänge der Naturzerstörung, die gegenüber dem kriegerischen Untergang der Zivilisation nur langsamer, aber nicht weniger gründlich die Lebenssubstanz verzehrt.

Ein Beispiel aus Österreich: Weil große Baumaschinen nicht verrosten dürfen, müssen nach Meinung führender Gewerkschafter (die für die Unternehmer die Kastanien auš dem Feuer holen) Autobahnen gebaut, Großprojekte verwirklicht, muß die Stadterweiterung der Stadterneuerung vorgezogen werden, obwohl jeder Weitblick dagegen spricht.

Wie lange können in Österreich jährlich 112 km2 bester Böden zubetoniert werden, bevor das Land in eine Wüste von Industrieruinen, zerbröckelnden Wohntürmen und verödeten Straßenbändern verwandelt ist?

Das Kennzeichen unserer Gesellschaft ist das immer weitere Auseinanderklaffen von ihren Wertvorstellungen und ihren mörderischen Verhaltensweisen.

Kein Staatsoberhaupt würde es mehr wagen, den Krieg als Vater aller Dinge zu bezeichnen, als er- .frischendes Stahlbad der Völker (Kaiser Wilhelm II. von Deutschland vor 1914), oder als natürliche Auslese der Tüchtigen (Hitler im 2. Weltkrieg). Doch Politiker und Massenmedien predigen Haß und verhöhnen die Friedensbewegung.

Kein Unterrichtsminister wird Mord und Totschlag preisen, doch in Film und Fernsehen wird weltweit tagtäglich die Verherrlichung blutiger Gewalt und häß

lichster Brutalität betrieben. Kein Unternehmer und kein Gewerkschafter fordert zur Vergiftung und Erschießung von Mitmenschen auf, doch wenn Menschen gegen die Produktion von Gift und Waffen auftreten, gefährden sie Arbeitsplätze.

Wie sollen wir unsere Kinder bitten: Lernt, arbeitet, bescheidet euch, seid gute Nachbarn, Freunde, Partner, werdet liebevolle Eltern, helft Armen, Leidenden, Unterdrückten, freut euch der Fülle und Schönheit des Lebens und sorgt, daß die nach euch Kommenden die gleichen Möglichkeiten haben

—, wenn wir gleichzeitig den unwürdigsten Zustand dulden, in dem sich unsere Spezies je befunden hat: Unter der ständigen Drohung leben zu müssen, ausgetilgt zu werden wie Ungeziefer! Nicht von einem zürnenden Gott, sondern von Menschen wie du und ich.

Was wir brauchen ist eine Übereinstimmung in der Beurteilung unserer Lage und unserer Verhaltensweise im Lichte der hier nur angedeuteten Tatsachen. Etwa so: Erstens, die Industriegesellschaft steuert Selbstmordkurs. Der

Kurs muß geändert werden.

Zweitens: Die bisherigen Erfolgsrezepte taugen nicht mehr. Größer, höher, schneller, mehr ist nicht notwendigerweise besser.

Drittens: Nicht alles, was machbar ist, darf gemacht werden. Die Zerstörungskraft unserer Maschinen und Waffen läßt das uralte, barbarische Recht des Stärkeren in Wirtschaft und Gesellschaft zum Vorrecht auf schnelleren und sicheren Tod werden.

Die Voraussetzung zur Kursänderung ist .die Abkehr vom Prinzip militärischen Denkens, der „Worst Case Assumption“: Wir

müssen stets auf den schlechtesten denkbaren Fall (also auf die böseste Absicht des anderen) vorbereitet sein. Würden wir nach diesem Grundsatz im täglichen Leben handeln, es wäre unerträglich: Dem liebsten Menschen Mordpläne Zutrauen, den Eltern, Kindern, Freunden, Nachbarn; das Dorf dem Dorf, die Stadt der Stadt! Das gab es ja einmal.

Wie können wir aber von den Regierungen solches Denken und entsprechendes Handeln erwarten, wenn nicht das große Umdenken, der Abbau der Feindbilder in breiten Schichten der Bevölkerung wenigstens eingesetzt hat? Wenn wir nicht in Elternhaus, Schule und Beruf und in aller Öffentlichkeit Vorleben, was wir meinen?

Alle unsere an Kinder und Jugendliche gerichteten Ansprüche, Lehren und Vorwürfe bleiben hohles Gefasel, wenn national und international die „Oberen“ weiter Macht, Geld und Gut sammeln, sich dafür feiern lassen und die Kluft zu den „Unteren" vertiefen. Wenn wir zugleich die Ausbeutung von Mensch und Natur auf die Spitze treiben und das Anheizen des atomaren Feuerofens zulassen oder gar bejubeln. So! sagt uns die Vernunft.

Die großen oppositionellen Grundströmungen der Zeit — Friedensbewegung, Frauenbewegung, Umweltbewegung — sind nur verschiedene Erscheinungen eines tiefen, gemeinsamen Füh- lens und Wollens. Es ist der Aufstand des Lebenswillens gegen den Tod durch Feuer und Beton, den eine blindwütige Männerherrschaft herbeizuführen droht. Auf ihnen gründet sich die Hoffnung auf den Sieg der Vernunft, der immer auch ein Sieg der Liebe ist.

Arnold Toybee, der große Historiker unserer Zeit, schreibt in seinem letzten Werk „Menschheit und Mutter Erde“ (1975) ganz am Ende des Buches den Satz: „In der Ökumene des Zeitalters der industriellen Revolution muß sich die Liebe auf alle Elemente der Biosphäre, belebte und unbelebte, erstrecken.“ Liebe, scheinbar so himmelweit von allem kühlen, logischen Denken entfernt — so sagten es immer wieder im Lauf der Geschichte die größten Geister —, ist die tiefere Logik des Lebens.

Die Beiträge von Nikolaus Lobkowicz und Peter Marginter sind in FURCHE Nr. 42/82 und Nr. 49/82.

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