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Gefangene des Systems

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Glaubt man westlichen Journalisten, Diplomaten, Sowjetologen und Kremlinologen, so entschied sich das allmächtige Politbüro bei der Wahl Konstantin Tschernen-kos zum.neuen KPdSU-Vorsitzenden für die bequemste aller Lösungen.

Zieht man auch noch das Alter (72) und die bereits etwas angeschlagene Gesundheit des Andro-pow-Nachfolgers in Betracht, ist der Schluß durchaus angebracht: Tschernenkos Ernennung zum neuen KPdSU-Chef ist eine Ubergangslösung.

Aber: Wie lange dauert eine Ubergangslösung? Monate, ein Jahr, zwei Jahre, vielleicht doch mehrere Jahre. Vielleicht so lange Zeit, daß Tschernenko seiner Herrschaftsära im Rahmen der Möglichkeiten doch seinen Stempel aufdrücken kann.

Die westlichen Sowjetbeobachter und -forscher haben es vor allem mit einem großen Problem zu tun: daß sich die Kreml-Herrscher nicht in die Karten schauen lassen, daß ein fast undurchdringlicher Schleier der Geheimhaltung über politischen Entscheidungen liegt, aber auch die politischen Entscheidungsträger deckt.

Um den Schleier etwas zu lüften, muß sich der Beobachter an — zumindest für westliche Augen — scheinbaren Nichtigkeiten orientieren und daraus seine Schlüsse ziehen. Zum Beispiel: In welcher Reihenfolge und Rangordnung treten die kommunistischen Parteiführer auf, welcher Clique oder Interessensgruppe sind sie zuzuordnen, welche Akzentverschiebungen ergeben sich in der offiziellen Parteidoktrin?. ,

Das sind dann die Anhaltspunkte für die Analyse der sowjetischen Herrschaftsverhältnisse — Anhaltspunkte, mehr nicht. Der Rest liegt im Bereich des Spekulativen.

Als die Wahl Tschernenkos bekannt wurde, war die Enttäuschung in so manchen Kommentaren westlicher Medien unschwer herauszuhören: Warum schon wieder einer aus der alten Garde, warum lassen sie nicht einmal einen jüngeren Technokraten ans Ruder, etwa den 53jährigen Michail Gorbatschow oder den 60jährigen Grigorij Romanow?

Schon wahr, nur: Was spricht dafür, daß ein KPdSU-Chef Gorbatschow oder Romanow die Sache besser anpacken würde als ein Tschernenko; daß ein sogenannter Technokrat an der Kreml-Spitze Mittel aus dem militärischen in den zivilen Sektor umschichten würde, um so zur Hebung des Lebensstandards der Sowjetbevölkerung beizutragen; daß die „Jungtürken" dem Westen unbefangener gegenübertreten und über die „friedliche Koexistenz" hinaus stabile und geordnete Beziehungen zu den „Kapitalisten" anstreben würden?

Letztlich ist heute jeder Generalsekretär der KPdSU ein Gefangener des Systems. Die Entscheidungen fallen im allmächtigen Politbüro, deshalb versucht auch jeder KPdSU-Chef hier seine Vertrauten und Gefolgsleute unterzubringen, um bei strittigen Fragen eine Mehrheit für seinen Standpunkt zustandezubringen.

So einfach aber dürfte das gar nicht sein. Denn seit Stalins Zeiten haben die wichtigsten Interessengruppen der Machtelite — Parteiapparat, Staatsbürokratie, Sicherheitspolizei und Militär — in diesem Gremium offensichtlich eine Art Vetorecht. Dies ist wohl der Fall, um zu vermeiden, daß ein KPdSU-Chef jemals wieder mit Hilfe der Sicherheitspolizei an den Schalthebeln der Macht schalten und walten kann, wie er will, und alle unliebsamen Genossen ausschaltet.

In einem solchen System sind radikale Reformen nur schwer möglich, es zwingt geradezu zu kollektiven Entscheidungen, ja zum Kompromiß. Gewiß wird es Situationen geben, in denen sich Interessensgruppen zusammenfinden und gegen andere auftreten: etwa die Gruppe der Sicherheitsfunktionäre aus Sicherheitspolizei und Militärs gegen die Gruppe der Bürokraten, wie es offensichtlich unter Andropow der Fall war.

Andererseits dürften aber auch alle darauf achten, daß keine der Gruppen zu stark wird. Deshalb war es auch weit hergeholt, als einige Sowjetbeobachter aus dem — gewiß in Ansätzen feststellbaren — Machtzuwachs der Militärs die unmittelbar. bevorstehende

Machtübernahme durch die Offiziere der Roten Armee voraussahen: Die Partei achtet sorgfältig darauf, daß sie weiterhin den Gewehren befiehlt!

Worauf es einem kommunistischen Regime vor allen anderen Dingen ankommt, ist die Beibehaltung der Macht und der Kontrolle. Radikale Reformen sind deshalb gefährlich, weil sie die Kontrolle und im weiteren Sinn die Macht gefährden könnten. Gewiß, unter Andropow gab es Ansätze für wirtschaftliche Reformen. Aber wie versuchte er sie durchzusetzen? Mit polizeistaatlichen Methoden, mit dem Ruf nach Disziplin und Ordnung!

Das Sowjetsystem schafft Zwänge, denen sich kein KPdSU-Vorsitzender entziehen kann. Will er nicht seine Position gefährden, hat er sich wohl oder übel den Wünschen der Nomenklatur anzupassen. Das Ergebnis ist die Starrheit — will man es positiv sehen: die Stabilität — dieses Systems. Den machtpolitischen Rahmen kann und will Tschernenko nicht sprengen. Aber dazu wären wohl auch Gorbatschow und Romanow oder wer immer nicht in der Lage ...

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