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Gegen alle Fehlformen in der Politik antreten

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Das Erkennen des Versäumten und das Eingestehen der Schuld, auch der eigenen, ist eine wichtige Voraussetzung für eine positive Zukunft.

Die Jahre 1938 bis 1945 sind ein dunkler Abschnitt in der Geschichte unseres Landes. Auch in Österreich haben nicht wenige den Nationalsozialismus mit seinen antichristlichen Ideen, ungerechten Gesetzen nicht rechtzeitig durchschaut, haben die persönliche Verantwortung abgeschoben, vor Verbrechen weggeschaut.

Viele wurden durch die Schrek-ken des Krieges gereinigt und geläutert. Ist aber damit wieder alles so, als ob nichts geschehen wäre?

1955 haben wir unsere Freiheit zurückerhalten. Was haben wir mit dieser Freiheit gemacht? Steht unsere Gesellschaft nicht in der Gefahr einer geistigen Gleichgültigkeit, in der die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Gut und Böse zerfließen?

Ist das nicht eine Freiheit ohne Verantwortung? Wie wird eine zukünftige Generation über den Egoismus, den Leichtsinn unserer Generation und Zeit urteilen?

Nützt es uns, von unserer Schuld der dreißiger und vierziger Jahre nur hin und wieder zu reden, um sie dann doch zu verdrängen, so daß viele Jugendliche diese Zeit mit ihrem furchtbaren Schrecken kaum erkennen oder sie als harmlos betrachten?

Denn wir haben große Anstrengungen auf uns genommen, um den Wohlstand zu mehren, den Konsum zu erhöhen. Aber mitmenschliche geistige Werte verkümmern. Das Miteinander, die Solidarität, das heißt die aus der Gottesliebev stammende Nächstenliebe ist bei zunehmendem Wohlstand im Abnehmen begriffen.

Und Fehlformen im politischen Handeln, Parteibuchwirtschaft, Nichtbeachtung der Meinung des Volkes führen zu Gleichgültigkeit, Zynismus, Politikverdros-senheit. Es entsteht bei vielen das Gefühl der Machtlosigkeit und Ohnmacht des Bürgers; Autorität verfällt.

Die Christen, die Kirche werden zu den mitgestaltenden Kräften dieses Landes gezählt. Haben ihre Vertreter, hat der Bischof selber das Gebot der Stunde erkannt, um ein prophetisches, aufrüttelndes und wegweisendes Wort zur rechten Zeit zu sagen?

Haben sich nicht viele Christen in das private Leben zurückgezogen und ihre politische Verantwortung nicht wahrgenommen?

Wandel der Werte

Der Blick in die Vergangenheit soll uns stärken, um nüchtern, aber voll Vertrauen nach vorne aus der Gegenwart in die Zukunft zu blicken.

Gegenwärtig leben wir erneut in einer Zeit des weltweiten Umbruchs. Man spricht von einem Wandel der Werte, vom Werden einer neuen Gesellschaft. Die Sorge um den Frieden ist bedroht durch das Wettrüsten. Der Hunger in vielen Ländern, die Frage nach der gerechten Verteilung der Güter müßten sich uns auf das Gewissen legen.

Durch die raschen Veränderungen, durch den großen Fortschritt von Wissenschaft und Technik kommen ebenso rasch neue Probleme auf uns zu: es ist die Arbeitslosigkeit, es sind die Probleme der Umwelt. Alle sind wir gerufen, an der Bewältigung dieser Aufgaben mitzuwirken.

Eine weltanschaulich-plurale Gesellschaft braucht einen Grundkonsens, braucht eine Ubereinstimmung in entscheidenden Wertfragen. Dafür sensibel zu sein, ist für uns alle eine besondere Aufgabe.

Aufgabe der Kirche ist es, an diesem Grundkonsens mitzuwirken. „Dieser konkrete Dienst der Kirche ist umso dringlicher in einer Zeit, in der eine wachsende Mißachtung menschlicher

Grundwerte die Fundamente der gesellschaftlichen Ordnungen untergräbt, den Menschen selbst in seiner innersten Würde bedroht” (Papst Johannes Paul II., Empfang beim Bundespräsidenten, 11. September 1983).

Ein pluralistischer Staat unserer Zeit kann ethische Normen bei der Gesetzgebung, im öffentlichen Leben nicht beiseite lassen, ohne dem Wohl des einzelnen und der Gemeinschaft großen Schaden zuzufügen.

Die Christen, die Kirche wollen allen Verantwortlichen Solidarität anbieten, wenn sie gemeinsam, aus persönlicher Uberzeugung, für die Verteidigung sittlicher Grundwerte in der heutigen Zeit eintreten.

Christen mit Phantasie

Die Entflechtung von Kirche und Parteipolitik darf kein Anlaß sein, daß Katholiken sich aus dem politischen und öffentlichen Leben zurückziehen. Christen sollen Phantasie entwickeln, um die vielfältigen Wege zu entdecken, am Wohl und Heil unseres Vaterlandes mitzuwirken.

Die Mehrzahl der Österreicher bekennt sich als Christen. Je mehr diese Christen „in Christus bleiben” oder zu ihm wieder zurückfinden, um so fruchtbarer können sie an der positiven Zukunft unserer Heimat mitwirken.

Aus der Ansprache des Wiener Erzbischofs beim Dankgottesdienst anläßlich „40 Jahre Zweite Republik - 30 Jahre Staatsvertrag” im Dom zu St. Stephan in Wien am 12. Mai 1985.

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