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Gegen den psychologischen Engpab

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Durch den Beschluß des Europäischen Rates im vergangenen Jahr, während des Monates Mai 1978 die ersten europäischen Direktwahlen durchzuführen, wurde vorläufig eine Diskussion abgeschlossen, die bereits vor dreißig Jahren begann, als sich die ersten konkreten Gedanken zur Formung der europäischen Integration bildeten. Europäische Direktwahlen bedeuten, daß die Wähler der Länder der Europäischen Gemeinschaft direkt unter Umgehung ihrer nationalen Regierungen Abgeordnete in ein europäisches Parlament entsenden. Dies zum Unterschied zu den drei bestehenden europäischen parlamentarischen Organen: dem Europaparlament der Europäischen Gemeinschaften (offizieller Titel: Europäische Parlamentarische Versammlung), der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (offizieller Titel: Beratende Versammlung des Europarates) und der Versammlung der Westeuropäischen Union. In diese parlamentarischen Organe werden nach der derzeitigen Regelung die Abgeordneten von den nationalen Parlamenten nach einem bestimmten Schlüssel entsandt. Seit dem Jahre 1971 sind sie ausnahmslos Mitglieder ihrer nationalen Parlamente.

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Durch den Beschluß des Europäischen Rates im vergangenen Jahr, während des Monates Mai 1978 die ersten europäischen Direktwahlen durchzuführen, wurde vorläufig eine Diskussion abgeschlossen, die bereits vor dreißig Jahren begann, als sich die ersten konkreten Gedanken zur Formung der europäischen Integration bildeten. Europäische Direktwahlen bedeuten, daß die Wähler der Länder der Europäischen Gemeinschaft direkt unter Umgehung ihrer nationalen Regierungen Abgeordnete in ein europäisches Parlament entsenden. Dies zum Unterschied zu den drei bestehenden europäischen parlamentarischen Organen: dem Europaparlament der Europäischen Gemeinschaften (offizieller Titel: Europäische Parlamentarische Versammlung), der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (offizieller Titel: Beratende Versammlung des Europarates) und der Versammlung der Westeuropäischen Union. In diese parlamentarischen Organe werden nach der derzeitigen Regelung die Abgeordneten von den nationalen Parlamenten nach einem bestimmten Schlüssel entsandt. Seit dem Jahre 1971 sind sie ausnahmslos Mitglieder ihrer nationalen Parlamente.

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Es liegt auf der Hand, daß ein derartig kühner Vorschlag kontrover-sielle Beurteilungen mit sich bringt. Zugunsten spricht hauptsächlich die Überlegung, daß europäische Parlamentarier zunächst und in erster Linie Europa verantwortlich sein sollen, was so lange wenig glaubhaft ist, als ihre Existenz in europäischen Parlamenten von der Gnade der eigenen nationalen Parlamente abhängt. Niemand konnte bestreiten, daß die Begeisterung für Europa in der Öffentlichkeit nachgelassen hat. Und da hoffte man, einen neuen Impuls dadurch zu geben, daß die Europäer direkt aufgerufen werden, Abgeordnete in ein europäisches Parlament zu entsenden.

Diesen positiven Überlegungen standen — und stehen nach wie vor — eine Reihe negativer gegenüber. Zunächst einmal das Hauptargument: ein direkt gewähltes europäisches Parlament nütze gar nichts, wenn dieses keine Autorität habe. Ja es würde dadurch eine Situation entstehen, die noch schlechter sei als derzeit, und zwar dann, wenn die europäischen Abgeordneten nicht auch in den nationalen Parlamenten vertreten sind, daher also keine Autorität zu Hause besitzen. Sie hätten also weder hier noch dort etwas zu sagen. Dazu wurden noch jahrelang formalistische Schwierigkeiten debattiert, wie man nämlich wahltechnisch solche Wahlen organisieren soll: große Wahlkreise, kleine Wahlkreise; für jeden Abgeordneten die gleiche Wählerzahl oder nicht; wenn nicht, wo liege der Schlüssel für eine verschiedene Behandlung beispielsweise zwischen einem luxemburgischen und einem deutschen Abgeordneten. Solche Diskussionen im Detail erzeugen immer eine freudige Orgie für alle bürokratischen Formalisten. Der wahre Grund für die Gegnerschaft zur europäischen Direktwahl liegt aber auf einer ganz anderen Ebene: es besteht nämlich die „Gefahr“, daß die Abgeordneten, die aus einem bestimmten Land direkt in das Europaparlament gewählt werden, ein anderes parteipolitisches Bild ergeben als im nationalen Parlament ersichtlich ist. Man könnte sich vorstellen, daß bestimmte Personen oder Gruppen direkt auf europäischer Ebene parlamentarisch aufscheinen, die es im nationalen Parlament gar nicht gibt. Das könnte letzten Endes auch zu verschiedenartigen Interessenvertretungen führen: nicht nur für Regierungen, sondern vor allem für Parteisekretariate ein Nachtge-spenst. Es mußte daher ein längerer Denkprozeß bei den Parteien, den Gewerkschaften, aber auch bei den Völkerrechtlern stattfinden, um die Standpunkte anzunähern, was beispielsweise dadurch erreicht wurde, daß es durch die jetzt vorgeschlagene Regelung den Staaten offen gelassen wird, ob die auf ihrem Territorium direkt gewählten europäischen Abgeordneten auch nationale Abgeordnete sein müssen oder können.

Der letzte Anstoß zugunsten des lang hinausgezogenen Projektes kam aber von der Behandlung einer weit ambitiöseren Idee: der Politischen Union Europas. Auch diese Idee ist nicht neu, sie wurde zum erstenmal in den fünfziger Jahren als Projekt der Europäischen Politischen Union zu Grabe getragen und erwachte erst wieder zu einem Zeitpunkt, als das Europaparlament der Europäischen Gemeinschaften sich gegen seine Machtlosigkeit zu wehren begann. Was eine Politische Union sein soll, wurde bisher wohlweislich nicht genau definiert, nicht deshalb, weil man keine Vorstellungen hätte, sondern umgekehrt, weil die Vorstellungen zu eindeutig sind und, exakt niedergelegt, den härtesten Widerstand bei den Regierungen hervorrufen würden. Politische Union bedeutet in ihrem Endstadium eine gemeinsame Regierung und eine gemeinsame echte Legislative, dazu eine gemeinsame mit Autorität ausgestattete Institution. Dabei braucht man gar nicht bis zur letzten Durchführung dieser wahren Integration zu gehen, bereits der Ansatz würde zu einer langsamen Aushöhlung der nationalen Souveränität führen, was alle Regierungen auf sehr lange Sicht in der Theorie akzeptieren (weil derzeit unaktuell), aber nicht einmal als Anfang in der Gegenwart hinnehmen würden.

In dieser widerspruchsvollen Situation gab es und gibt es immer Leute, die unter Hinweis auf die mannigfachen gesetzlichen Schwierigkeiten in den einzelnen Ländern und den nun einmal im öffentlichen Leben herrschenden Trend zu Verzögerungen der Ansicht Ausdruck verleihen, das alles würde man ohnehin nicht mehr erleben und man solle sich daher weder zu viele Hoffnungen noch zu viele Ängste machen. Es hat aber derzeit doch den Anschein, daß die Dinge in Fluß gekommen sind. Gesetze sind zum Beispiel in Belgien und in Deutschland schon in Vorbereitung, die Zahl der Abgeordneten, die in den einzelnen Ländern gewählt werden sollen, ist bereits festgelegt, und — was immer in der Politik ein besonders treibendes Element ist — eine Reihe von Kandidaturen liegt bereits vor, unterstützt durch handfeste Interessen. Man muß damit rechnen, daß im Mai 1978, wenn auch nicht am gleichen Tage, in sieben von den neun Ländern der Gemeinschaft Direktwahlen stattfinden werden,

und daß daraus ein gänzlich neues Europäisches Parlament hervorgeht. Voraussichtlich wird dies nicht in Großbritannien und Dänemark der Fall sein, diese Länder dürften die Abgeordneten nach der bisherigen Methode entsenden, wenn auch nach dem neuen Zahlenschlüssel. Völlig offen ist auch noch die Antwort auf die Frage, ob das europäische Mandat mit einem nationalen Mandat verbunden sein wird. Es hat aber den Anschein, daß die meisten Länder eine Verbindung der beiden Mandate favorisieren werden, wenn auch nicht obligatorisch machen. Dies hat eine doppelte, sehr große Bedeutung: man muß durch längere Erfahrung heute feststellen, daß die Verbindung von einem nationalen mit einem europäischen Mandat zeitlich nicht oder fast nicht zu bewältigen ist. Das hat dazu geführt, daß viele Abgeordnete entweder ihr nationales Mandat oder ihr europäisches vernachlässigen mußten, was dann zum Verlust beider führte. Schon aus Notwendigkeit wird daher die Möglichkeit geschaffen werden müssen, auch europäische Abgeordnete zu besitzen, die sich ausschließlich der europäischen Aufgabe widmen können. Das hat aber auch eine andere Bedeutung, die uns zu dem großen Problem führt, welche Begleiterscheinungen europäische Direktwahlen zum Europaparlament auf diejenigen europäischen Staaten haben, die den Gemeinschaften nicht angehören.

Diese Staaten teilen sich in zwei Gruppen ein: solche, die ihrer Natur nach einmal Mitglieder der Gemeinschaften werden können, und solche, die es ohne Änderung ihres internationalen beziehungsweise rechtlichen Status nicht werden können. Die Letzteren sind die europäischen Neutralen, die Ersteren Staaten wie Griechenland, Türkei, Spanien, Portugal und — sollte es seinen ursprünglichen Entschluß ändern — Norwegen. Es besteht kein Zweifel, daß die der ersteren Gruppe angehörenden Länder, wenn sie einmal den Europäischen Gemeinschaften angehören werden, was wohl kaum vor zwei Jahren zu erwarten ist, auch die Institution der Direktwahlen akzeptieren, schon allein, um auch auf parlamentarischem Gebiet die Europareife zu demonstrieren. Nebenbei bemerkt, ist gerade diese Begleiterscheinung eines der Motive für die Zurückhaltung der Neunergemeinschaft gegenüber neuen Anträgen. Aber wie stellt sich die Situation für die Neutralen, die realistisch nicht damit rechnen können, Mitglieder der Europäischen Gemeinschaften und damit eines Europaparlaments zu werden?

Diese Länder haben nur eine institutionelle politische Bindung an die europäische Integration, den Europarat. Die Westeuropäische Union beschäftigt sich mit militärischen Problemen, ist daher schon aus diesem Grunde den Neutralen verschlossen, und setzt sich aus sieben Staaten aus dem Kreise der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften zusammen. Die Abgeordneten in der Versammlung der Westeuropäischen Union sind identisch mit den Abgeordneten dieser Länder in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Nun könnte man annehmen, daß die sich auf die Europäischen Gemeinschaften erstreckenden Direktwahlen doch für die Parlamentarische Versammlung des Europarates, der sich neben den neun Ländern der Gemeinschaften noch aus anderen neun Ländern zusammensetzt, gleichgültig seien. Tatsächlich sind in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates alle Mitgliedstaaten dieser Organisation vertreten; mit der einzigen Ausnahme Zypern, als ein Ergebnis der inneren Situation dieses Landes, die kein gemeinsames nationales Parlament zuläßt, daher auch keine einvernehmliche Entsendung einer Parlamentarischen Delegation nach Straßburg. Die Frage stellt sich also, ob die Europäischen Direktwahlen indirekt Rückwirkungen auf den Europarat und damit auf die europäische Position der Neutralen haben.

Um auf diese Frage eine Antwort zu geben, muß man auf einen oben angeführten Einwand zurückkommen: daß nämlich direkt gewählte europäische Abgeordnete keinen Sinn hätten, wenn ein so gewähltes Europaparlament keine Autorität besäße. Nun ist es sicher richtig, daß die Regierungen, auch wenn das Europaparlament direkt gewählt sein wird, noch nicht gewillt sein werden, diesem größere substantielle Kompetenzen gegenüber dem Ministerrat der Gemeinschaften und der Kommission zu verleihen. Dieser Zustand wird aber nicht bleiben: die Wähler, die nämlich einen europäischen Abgeordneten wählen, sind zu gleicher Zeit auch nationale Wähler für ihre nationalen Parlamente. Sie können es nicht zulassen, daß sie europäische Abgeordnete entsenden, die keine Autorität haben werden. Dadurch würde schon eine zweite Wahl sinnlos werden. Also werden Konsequenzen für die nationalen Parlamente und Regierungen entstehen oder der ganze Versuch eines direkt gewählten Europaparlamentes wird aboliert. Wenn aber das Europaparlament mehr Autorität bekommt und wenn überhaupt die Direktwahlen bei den Europäern große Resonanz auslösen, werden sich diejenigen Abgeordneten aus den Gemeinschaftsländern, die das Schwergewicht ihrer Tätigkeit auf europäische Belange legen, eher dem Europaparlament zuwenden, als anderen Institutionen. Dort liegt dann der Schwerpunkt, der Einfluß in der Zukunft und eine aussichtsreiche Karriere.

Neben den vielen gewaltigen Verdiensten des Europarates gehören in diesem Zusammenhang zwei erwähnt. Er ist das Forum, in dem sich Vertreter überseeischer Länder und anderer großer Organisationen mit den europäischen Parlamentariern zusammenfinden, er ist der Ort des großen Dialoges zwischen Europa und der übrigen Welt. Und der Europarat ist weiterhin das Bindeglied zwischen den Ländern der Gemeinschaften (einem Teil seiner Mitglieder) und den übrigen neun Staaten, die in einem weiten Bogen die Gemeinschaftsländer umgeben. Die Konstitution des Europarates ist nun so beschaffen, daß alle Entscheidungen in seinem Ministerkomitee gefällt werden, aber alle Anregungen und Vorschläge zu diesen Entscheidungen aus der Versammlung kommen. Es ist eine im Grunde bedrückende Tatsache, daß in den 25 Jahren Geschichte des Europarates kein einziger Vorschlag zur Fortentwicklung der europäischen Integration in dem Ministerkomitee des Europarates geboren wurde. Das heißt aber, wenn etwas mit dieser Versammlung passiert, wenn diese aus irgendwelchen Ländern nicht mehr beschickt wird, wenn diese Versammlung an Bedeutung verliert, dann hat auch das Ministerkomitee nichts mehr, was es annehmen oder ändern oder ablehnen kann. Wenn sich hier nicht mehr die Abgeordneten der achtzehn europäischen Länder treffen, dann werden auch die Besucher von Übersee oder von den großen Organisationen oder aus den Nichtmitgliedstaaten nicht mehr den Weg zum Europarat finden, und dann verliert sich langsam die hervorragende Aufgabe des Europarates als großes europäisches Bindeglied.

Zunächst ist es sicher richtig, daß abgewartet werden soll, wie sich die europäischen Direktwahlen und ihre Begleiterscheinungen realisieren werden. Aber man soll sich in dieser Zeit Gedanken über Lösungsvorschläge machen. Ein solcher Vorschlag zum Beispiel geht dahin, daß diejenigen direkt gewählten europäischen Parlamentarier aus den Gemeinschaftsländern, die nicht ein nationales Mandat bekleiden, auch die Delegation ihres Landes in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates übernehmen können. Sie würden, da sie ausschließlich auf europäische Aufgaben konzentriert sind, diese beiden Funktionen (damit für einige von ihnen auch in der Versammlung der Westeuropäischen Union) vereinen können. Aber dieser Vorschlag setzt zwei Dinge voraus: erstens müßte die Parlamentarische Versammlung des Europarates von der seit 1971 geltenden Regel abgehen, daß nur nationale Parlamentarier zu gleicher Zeit auch Abgeordnete in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates sein können. Ob die Versammlung von der derzeitigen Regel abgehen wird, die ihre pro und kontra hat, ist fraglich. Zweitens aber müßten bei den Gemeinschaftsländern ebensolche Abgeordnete, die kein nationales Mandat haben, zur Verfügung stehen.

Sicherlich ist es heute verfrüht, Vorschläge zu diskutieren, die letzten Endes dazu führen müßten, daß die europäischen Institutionen zusammengelegt werden. Obwohl die Europäischen Gemeinschaften ihre ursprünglich supranationalen Tendenzen wenigstens derzeit sehr in den Hintergrund gestellt haben — vor allem, weil die Regierungen der großen europäischen Länder die Dinge unter sich und nicht im Rahmen supranationaler Organisationen entscheiden möchten — so kann man dennoch nicht leugnen, daß in der europäischen Öffentlichkeit der eindeutige Wunsch existiert, die Vielfalt europäischer Organisationen zu reduzieren und ein mehr einheitliches Bild auf institutioneller, parlamentarischer und Regierungsebene zu schaffen. Für ein neutrales Land wie Österreich entstehen dadurch bedeutsame Probleme und es wird eine vorsichtige und dennoch einfallsreiche Politik notwendig sein, um die daraus entstehenden Probleme in der Zukunft so zu lösen, daß dabei Österreich in seiner internationalen und europäischen Position nicht geschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt wird. Wir müssen aber der auf uns zukommenden Problematik bewußt sein, und wir müssen uns vor allem vor Augen halten, daß die Dinge im Bereich des sich integrierenden Europa so weit gekommen sind, daß entweder die Integration neue Impulse erhalten wird, oder daß der europäische Zusammenschluß ein Ende findet und das Ganze nur ein großer Traum gewesen ist. Manche denken heute so, und gerade deswegen ist ein neuer Anstoß nötig. Daher ist alles offen, nur eines ist unmöglich: daß nämlich die derzeitige Stagnation noch weiter anhält.

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