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Gehört die Zukunft dem „Kapitalismus“?

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Gehört die Zukunft dem „Kapitalismus“? Der 37jährige französische Nationalökonom Henri Lepage* ist davon überzeugt und führt die ökonomische Theorie der amerikanischen Neoliberalen zum Zeugnis dafür an. Man muß ihm vorweg zugeben, daß angesichts steigender Staatsverdrossenheit, der Erkenntnis der Grenzen des Wohlfahrtsstaates und der sozialen Sicherheit, der Entzauberung des Sozialismus (überall wo er totalitär herrscht), vor allem aber der ökonomischen Dauerkrise seit 1973 seine Thesen aufhorchen lassen.

Er spricht von einer ökonomopho-bie: der Wirtschaft würde alle Schuld zugeschoben. Als ob die Wirtschaft etwas dafür könne, wenn sich die Menschen schlechten Konsumgewohnheiten hingeben. Beim Wort Anarchie des Marktes, Wirtschaftsliberalismus oder gar Kapitalismus melde sich sofort das schlechte Gewissen. Neben dem klassischen Marxismus habe dazu vor allem die Generation der jungen Ökonomie des Protests der 60er Jahre beigetragen, antikapitalistisches Ressentiment zu verbreiten. Es sei intellektuelle Modeerscheinung gewesen, radikalen Ideen nachzuhängen und mit sozialir stischen Utopien zu sympathisieren, statt Ökonomie Politökonomie zu betreiben, also die Wissenschaft dem strategischen Interesse einer Veränderungspolitik zu unterwerfen.

Wende und Neuansatz dagegen sieht Lepage in den neoliberalen ökonomischen Strömungen der USA, zu deren bekanntester, der Chicagoer Schule von Milton Friedmans Monetärsten, er wettere drei anführt. Einige Schwerpunkte in der Kritik dieser Schulen lassen tatsächlich sogleich aufhorchen. Ihr Neoliberalismus ist nicht einfach ein Zurück zu den Vätern des liberalen Gedankens.

So wird der Kapitalbegriff „humanisiert“ (capital humain). In die wirtschaftliche Wertbetrachtung werden Aspekte der Familie, der Marktpassiven ebenso hereingezogen, wie eine neue Theorie des Konsums versucht wird. Die „Bewegung“ zugunsten der Rechte des Eigentums (droits de pro-priete) hat erkannt, daß das Marktspiel allein nicht das Konzentrationsproblem lösen kann, sondern nur eine Stärkung der Rechte des Eigentümers als Gegenmacht zu den organisierten Mächten des Managements und zu autoritären Eingriffen. Ziel wäre die gesellschaftliche Regelung der Gewinnverteilung, die Kostensenkung, der sparsame Umgang mit den knappen Ressourcen und Gütern (auch der Umwelt), also die Hinführung von Kapital und Energie zu den sozial nützlichsten Aktivitäten, zu ihrer größten sozialen Effektivität.

Die Schule des „Public Choice“ hätte das Verdienst, gegen Etatismus und Bürokratismus der Gegenwart vorzugehen, da diese gesellschaftli-

chen Schwierigkeiten heute gerade durch die politischen Institutionen versucht würden. Man wäre längst an den wirtschaftlichen und politischen Grenzen des Machbaren angelangt, möchte aber weiter demokratisieren, also nur weitere Bürokratie. Die Erneuerung sieht Lepage in einem neuen Liberalismus auf der Basis der Neuentdeckung einer allgemeinen Theorie des Kapitalismus. In den folgenden Kapiteln zeichnet er diese Theorie.

Die Geschichte ist verfälscht worden, daher sei die Wirtschaftsgeschichte neu zu schreiben, wofür Lepage eine Reihe von neuen liberalen Historikern zum Zeugnis anführt. Den wahren Gründen des Wachstums wird nachgegangen: sie lägen in der makroökonomischen Betrachtungsweise nach den marxistischen Theorien. Die Entstehung des Eigen-

ste Erneuerung sieht Lepage in ... der Neuentdeckung einer allgemeinen Theorie des Kapitalismus“

tums wird in der Ablöse des Feudaleigentums gesehen, dessen Rechtsformen eben nicht mittels der marxistischen Gesellschaftsanalyse, wie es heute oft geschieht, erfaßt werden können. Hingegen lägen in einer „Wirtschaft des Rechts“ die echten Ursprünge des Kapitalismus.

Das ständige Zunehmen des Staatssektors wird aufgeklärt. Die Wurzel sei in der mythischen Annahme zu sehen, der Staat könne kot lektiv besser vorhersehen und Vorsorgen als der einzelne, was die Kostenprogression des Interventionismus beschert habe. Und so kommt es dagegen zur Wiederentdeckung des Marktes, zur erneuten Verbindung von Wirtschaft und Freiheit. Der Konsument solle wieder in seine Funktion der Ökonomie eingesetzt werden nach der neuen Theorie: Milton Friedmans Opus signalisierte den „Tod von Keynes“ durch die neue Theorie der Beschäftigung, des Streiks und der Inflation.

Fazit von Lepage: für eine Politik des Wirtschaftlichen! Die Gesellschaft muß wieder die Wirtschaftspolitik machen, nicht der Staat. Eine Gesellschaft ist zu entwerfen, die um ihre Werte selbst weiß und sie auch verwirklichen kann. Gegen den modernen Wohlfahrtsstaat gilt es, den Staat zu entmythologisieren. Dazu ist der Liberalismus das System, das es objektiv zu erreichen vermag, einer größtmöglichen Zahl von Leuten ein Maximum an Chancen zu geben, damit sie selbst ihre Art zu leben wählen können.

Wer diese Gedanken liest, kann angesichts vieler Zeichen der Zeit nicht leugnen, daß sich im Bereich der Gesellschaft und der wirtschaftlichen

Kooperation eine Wende abzeichnet, weg vom Kollektivismus. In der anthropologischen Grundlage freilich kommt der Neoliberalismus nicht über einen vordergründigen positivistischen Pluralismus hinaus entgegen dem antipluralistischen Sozialismus/Marxismus. Die heute dringend nötige Rehabilitierung des Marktes und der Marktwirtschaft braucht eine tiefere Begründung als nur aus dem Pragmatischen, um die „Entfremdung von Recht und Wirtschaft gegenüber dem Humanuni“ zu überwinden, nämlich die Orientierung „an der objektiven Zweckordnung“. **

Helmut Schelsky hat in einem Vortrag Anfang Dezember vergangenen Jahres in Berlin Unmündigkeit und Unselbständigkeit die Kennzeichen der herrschaftsbedingten Uberper-fektionierung des betreuenden Sozialstaates genannt und am meisten den Verfall der Moral angeklagt in seinem Gefolge. Woher sollte nach ihm die moralische Gesundung aber kommen? Die soziale Marktwirtschaft, als Selbstregelungsmechanismus unserer Gesellschaftsordnung zugrundeliegend, könne nicht funktional oder durch Bekenntnisse verteidigt werden, sondern hänge von der geistig-politischen Erneuerung unserer Gesellschaft ab.

Der Markt als Organ der Sozialwirtschaft kann nicht die wirtschaftende Ratio und das wirtschaftende Ethos der Menschen ersetzen, sondern baut darauf auf. Wenn die katholische Soziallehre die wirtschaftliche Kooperation des Menschen als freies'' Wesen in seiner Entscheidung für seinen Arbeitseinsatz und seine Arbeitsleistung respektiert und in die Mitte der Wirtschaft setzt, dann ist der Markt zwar unersetzlich, aber nicht funktionstüchtig ohne ordnenden Einfluß durch eben diesen Menschen, der in seinem Wirtschaften frei ist, aber nicht frei von sozialer Bindung und Verantwortung: erstens zur Selbständigkeit und zweitens zur Solidarität im Freiheitsgebrauch.

* Henri Lepage, Demain le capitalisme, Paris 1978, ein Taschenbuch der Colleetion Pluriel ** Peter Paul Müller-Schmid, in: Neomarxismus und pluralistische Wirtschaftsordnung, hrsg. von der Internationalen Stiftung Humanum, Bonn 1979.

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