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Geist und Kitsch

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Das Denken denkt über sich selber nach, nicht über das Los des Menschen, nicht über den Weinbau, nicht über Gesetz und Gewalt, und nicht über Krankheit und deren Heilung, et cetera. Jedweder Gegenstand ist bloß vorgeschoben: so wie man, um des Lichtes gewahr und inne zu werden, einen (festen, flüssigen oder gasförmigen) Körper in den Lichtkegel bringen muß. Dann wird zwar, dem Augenschein, dieser Körper sichtbar — zum Beispiel der Rauch aus meiner Tabakspfeife oder der

Mond am Himmel -, aber was eigentlich sichtbar wird, ist dasjenige, was diesen Körper sichtbar macht: das sonst unsichtbare Licht.

Genauso ist der Gegenstand jedes Denkens das Denken selbst, indem dieses erst an vorgeschobenen (völlig beliebigen) Gegenständen, daran sich probierend, das heißt in der Reflexion, seiner selbst gewahr und inne wird.

Die Geburt der Philosophie, genauer: von wissenschaftlicher Philosophie, bei den Griechen im 6. Jahrhundert vor Christus ist vielfach erklärt worden aus dem Unbehagen am Mythos: man wollte, was einem verkündet ward, nun denn auch wissen; es besser wissen — der geradezu besserwisserische Tonfall speziell der Naturphilosophen ist unüber-hörbar.

Was aber hat die Griechen veranlaßt, derart gewaltig und auch gewalttätig auf den Mythos zu reagieren? Warum haben sie, und nur sie, reagiert, während andere Kulturen zur nämlichen Zeit ihr mythisches Weltbild durchaus nicht zertrümmert, ja nicht einmal angekratzt, sondern, im Gegenteil, schärfer gezeichnet, von Schlacken gereinigt, es eigentlich erst recht vollendet haben, wie bei den Juden der zweite Jesaja den Monotheismus? Warum hat dieselbe Zeit im Nahen und Mittleren Osten nicht ebenfalls Aufklärer, sondern Propheten und Stifter hervorgerufen, sowohl bei Semiten als auch bei In-dogermanen, sowohl bei „asiatischen“ als auch bei „europäischen“ Völkern, unter „orientalischen“ wie unter „okzidentalen“ Voraussetzungen und Verhältnissen?

Nun, in eben der Frage liegt schon die Antwort: Die Religionen der Völker in diesem Kulturraum haben von Anfang an neben den eigentlich religiösen Bedürfnissen auch schon die phüoso-phischen mit berücksichtigt, ja befriedigt: im Schutz des Glaubens boten sie Anreiz zum Denken; der Glaube selbst war Anlaß zum Denken; so daß, um das nächstliegende Beispiel zu wählen, die Juden niemals einen Bedarf an Philosophie verspürt und daher auch niemals Philosophie im griechischen, dann europäischen Sinn produziert haben, außer so etwas wie Scholastik, und selbst im Abfall von Gott sind sie dessen Wort verhaftet geblieben: Marx hat nicht originär spekuliert, sondern bloß die verhaßte Bibel ins libera-listisch-optimistische Rotwelsch übertragen. Und ebenso wie die Thora den Juden, hat der Veda den Indern jedwede Philosophie als solche vorweggenommen.

Den Griechen hingegen, wenn sie gen Himmel blickten, bot sich nun nicht nur kein Schöpf ergott, keine Idee, kein Prinzip, ja nicht einmal auch bloß die teleologische Projektion ihrer selbst; sondern nur ein Schmierentheater: der Olymp als der Ort der Abschiebung ihrer grauslichsten Eigenschaften. Kürzer, mit Nietzsche: ihre Götter waren nicht gut gedacht. Homer und Hesiod haben zwar lauthals souffliert, allein, sie haben damit erst recht die griechische Theologie als das, was sie vor ihnen war, befestigt: als philosophischen Kitsch, gleich weit entfernt von der spekulativen Subtilität der Ägypter wie von der klaren Ethik des Zarathustra.

Und vor diesem Kitsch ist einigen Zuschauern endlich das fundamentale Unbehagen gekommen, sie haben gesagt, das darf doch nicht wahr sein, und das war die Zeugung der Philosophie. Und dann hat einer von ihnen gesagt, es war Thaies, alles ist eins; und das war die Geburt der Philosophie. Und dann hat wieder ein anderer, Anaximander, gesagt, ein jedes ist Schuld und Sühne; und da war denn die wissenschaftliche Philosophie genau dort, wo die philosophischen Religionen schon immer gewesen sind.

Und von dort her hinkt nun die Philosophie mit hängender Zunge hinter der Religion einher; dem Pascal, zum Beispiel, nicht einmal „eine Stunde Anstrengung wert“. Von dort her, jedenfalls: von der begreiflichen Opposition des Geistes nicht gegen den Mythos, sondern nur gegen die geistlose Religion, rührt die scheinbare Unvereinbarkeit von Denken und Glauben. Vom Denken her hat diesen Riß allein Schopenhauer geheilt, mit seiner Philosophie des Leidens und Mitleidens, diesen ebenso logischen wie auch mythischen äußersten Konsequenzen aus Thaies und Anaximander.

Bestätigt wird er von der Philosophie der Atom- und Astrophysik, die ja ihrerseits griechisch ist, nur mit besser gedachten Göttern. So erfahren wir doch vielleicht noch, was wir eh schon wissen.

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