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Gekürzter Lebensfaden

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Die kürzeste Lebenserwartung in Europa haben derzeit die Polen (1985: bei Männern zwischen 62 und 65 Jahren, bei Frauen zwischen 70 und 72 Jahren). Laut den offiziellen Angaben sind dort 1984 364.900 Menschen gestorben. Das ist die höchste Zahl der Sterbefälle in diesem Land seit dem Zweiten Weltkrieg.

Todesursachen sind zu 80 Prozent Herz- und Krebskrankheiten. An diesen starben in Polen 1984 im Vergleich zum Jahr davor 4,4 Prozent Männer und 5,7 Prozent Frauen mehr.

Der Anstieg dieser Erkrankungen hat seine Wurzel zum Teil in der Pathologie der Gesellschaft-Polen nimmt die erste Stelle in Europa im Konsum von Alkohol und Tabak ein. Von fast 37 Millionen Einwohnern des Landes ist eine Million total vom Alkohol abhängig. Im letzten Jahr haben die Polen für Alkohol etwa 166 Milliarden Zloty ausgegeben, was etwa 14 Prozent des nationalen Einkommens ausmacht.

Vergiftungen aller Art sind die häufigsten Ursachen der Sterblichkeit der Kinder und Jugendlichen im Alter von fünf bis neunzehn Jahren. Die Berufstätigen sterben dagegen immer häufiger an Magengeschwüren, Leberschrumpfung und Krankheiten der Atemwege. Entzündungen .. und Vergiftungen des Verdau-

ungskanals wurden zu gesellschaftlichen Krankheiten. In den letzten Monaten hat man auch immer mehr Erkrankungen an Keuchhusten, Dysentherie und Bauchtyphus festgestellt.

Die Männer in Polen leben um etwa acht Jahre kürzer als die Frauen. Schon heute weiß man, daß die männlichen Bewohner der industriellen Großstädte Polens wie Lodz, Posen, Warschau und Krakau, die jetzt 30 bis 45 Jahre alt sind, etwa zwei Jahre weniger Lebenserwartung haben als

diese Altersgruppe in den fünfziger Jahren. Die unstabile wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage verursacht auch viele Nerven- und Geisteskrankheiten, vor allem unter der jungen Generation. Beispielsweise in der Großstadt Posen sind bereits dreieinhalb Prozent der Bevölkerung in psychiatrischer Behandlung. In ganz Polen stieg in den letzten Jahren die Zahl der in psychiatrische Anstalten eingelieferten Patienten um 59 Prozent.

Jugendliche sind diejenigen, die am- häufigsten zum Rauschgift greifen. Die Zahl der Drogenabhängigen in Polen wird derzeit auf etwa 200.000 geschätzt. Das po-

pulärste Rauschgiftmittel ist der sogenannte Kompott, der aus den einheimischen Mohnstrohhalmen gekocht wird. Den Drogenabhängigen wird seitens des Staates nur in sehr geringem Ausmaß geholfen. Den 50.000 rauschgiftsüchti-gen Jugendlichen, welche sofortige ärztliche Behandlung benötigten, stehen nur 80 Betten zur Verfügung.

Die große Umweltverschmutzung sowie die Katastrophe in Tschernobyl lassen keine Hoffnung auf eine rasche Verbesserung der Situation in Polen. Nach dem Reaktorunfall wurden in Polen die zugelassenen Normen der Radioaktivität in den Städten Posen, Olsztyn und Mikolajki sogar 500mal überschritten. Die Dosis der Bestrahlung war so hoch, daß die Filme bei den Röntgenaufnahmen zur Zeit des Unfalls in vielen Spitälern geschwärzt wurden.

Die starke Strahlenbelastung wird die hohe Rate an Todesfällen in Polen sicher noch weiter ansteigen lassen. Die Wissenschaftler haben bereits festgestellt: Sollte es in Polen nicht rasch zu Veränderungen kommen, würde man es sogar in drei Generationen nicht schaffen, den Lebensstandard der siebziger Jahre zu erreichen und damit die durchschnittliche Lebenserwartung in Polen um zwei Jahre zu erhöhen.

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