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Gelähmte Sowjetfuhrung

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Es ist müßig, über die Art der Erkrankung des sowjetischen Partei- und Staatschefs Juri Andropow zu spekulieren: Darüber, ob es sich um ein von den Sprachrohren des Kreml zum Schnupfen verniedlichtes schweres Magen- oder Nierenleiden handelt, oder gar um eine Schußverletzung in handfester Auseinandersetzung mit dem wildgewordenen Breschnew-Clan, wie es nach jüngsten, sich auf Geheim dienste berufenden Gerüchten heißt. Kremltüren sind dicht verschlossen.

Jetzt wiegt nur die Tatsache, daß Andropow physisch behindert ist, daß an der Spitze der östlichen Großmacht ein invalider Mann steht, dem die volle Kraft zu regieren fehlt.

Ist Andropow nicht imstande, die Tagung des Zentralkomitees Anfang Dezember und die Zusammenkunft des Obersten Sowjets zu präsidieren, dann wird auch die wiederholte Beteuerung, er sei mental voll auf der Höhe, unglaubwürdig. Dann wiederholt sich das bekannte Schauspiel der jüngsten Sowjetgeschichte, als der Tod des Vorgängers über Jahre hin vorausgesagt, erwartet wurde, die fertigen Nachrufe in der Schublade vergilbten, der wirtschaftliche und politische Gigant in der Unbeweglichkeit versank, die Andropow in seinem ersten Jahr nicht zu überwinden vermochte.

Andropows Krankheit ist nicht politischer Natur. Er ist der starke Mann, dessen Führung so lange unangefochten bleibt, als Aussicht auf Genesung besteht. Er hat die Armee hinter sich und den machtvollen Apparat des Geheimdienstes, den er zuvor selbst befehligte. Allzu lange Abwesenheit von der politischen Schaltzentrale ist aber für keinen Staatsmann zuträglich.

Die ungelöste Nachfolgefrage, eines der elementaren Nachteile eines Systems ohne das Rezept der Sukzession, ist im Innern noch leichter zu verkraften als in den Außenbeziehungen. Für die aufkommenden Anwärter auf die Nachfolge ist sie nicht unwillkommen: Zeit der Verzögerung ist vermehrter Spielraum für die Persönlichkeiten in Politbüro und Sekretariat, die eigene Machtbasis noch weiter auszubauen.

Dazu handelt es sich um eine Gerontokratie, die sich nur unter Zwang von der Macht trennt und jeden jüngeren schon von vorne- herein mit Argwohn betrachtet. Für Alijew, Romanow oder Gorbatschow, oder wer immer auf der Spekulationsbörse als aussichtsreicher Prätendent gehandelt wird, ist die Situation schwieriger als bei Breschnews Tod, als sich der Neue nur von einem Konkurrenten bedrängt anbot.

Es sind die Schwierigkeiten, die Andropow nur zu gut aus eigener Erfahrung kennt. Gleichwohl konnte er sich in kürzester Zeit zu einer Machtfülle aufschwingen, wozu Breschnew wenigstens vier Jahre, wahrscheinlich länger brauchte, indem er einen nach dem anderen Konkurrenten ausbootete. Breschnews Epoche war die Zeit der Konsolidierung und Bewahrung, jeder abrupten Veränderung abhold, die innerhalb dieses Systems ungeahnte und unkalkulierbare Auswirkungen haben kann.

Als Andropow an die Spitze trat, stellte er Reform in Aussicht, die durch einen wirtschaftlichen Aufschwung unterstützt zu werden schien. Doch wie dieser Elan bald erschlaffte, scheitere jeder Reformansatz an dem diesem System innewohnenden Trägheitsmoment. Heute steht die Wirtschaft wieder auf breschnew- schem Niveau.

Für Andropow charakteristisch ist sein machtvoller Instinkt zur Vorsicht. Er weiß, daß der Wirtschaft Effizienz fehlt, Reform braucht. Die Agrarreform vom Frühjahr löste eine lebendige und offene Debatte aus, gab den Bauern mehr Eigenständigkeit, verlief aber letztlich im Sande.

Neuerung bleibt stehen, wenn sie den nimmersatten Generälen Ressourcen entziehen muß. Noch immer zahlt der Bürger mit armseligem Lebensstandard, mit Wartestehen vor leeren Geschäften. Der Funke von Menschenrecht und jeder Ansatz von Pluralismus aus dem Innern der Gesellschaft heraus wurde unter Andropow mit stalinistischer Härte unterdrückt. In der Substanz blieb bisher alles gering, was sich als Neuerung und Reform durchsetzte.

Unbeweglichkeit in den Beziehungen nach außen ist das her vorstehende Merkmal des ersten Jahres unter Andropow. In Afghanistan wartet die Welt auf ein Zeichen der Bewegung und Veränderung. Nichts dergleichen geschah. Mit Polen und China steht Andropow um nichts besser da als Breschnew.

In der Propagandaschlacht um die NATO-Raketen gewann Andropow unterstützt von den westlichen Friedensbewegungen die Initiative, um sie durch Starrheit und Drohung wieder einzubüßen. Erst fünf vor zwölf scheinen die Genfer Gespräche durch die Konzession, französische und britische Raketen vorerst auszuklammern, in ihrem Fortbestand gerettet.

Jede Aussicht auf ein Gipfeltreffen mit US-Präsident Reagan zerrann nach dem Abschuß der südkoreanischen Passagiermaschine über sowjetischem Territorium.

Hat man von Andropow zu viel in zu kurzer Zeit erwartet? Sicherlich. Auch er hat mit den Schwierigkeiten einer geordneten Machtübergabe zu kämpfen. Sein Politbüro ist das Erbe Breschnews, das er bisher nur um einen Mann (Geidar Aliew) seiner Wahl bereichern konnte. Sein fähiges, dynamisches Beraterteam agiert ins Leere, solange Inhaber der Macht zur Reform aus Vorsicht und Mangel an Entwicklungszeit zögert.

Noch mehr ist das ganze System paralysiert, wenn der Führer ans Bett gefesselt ist.

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