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Gemeinsam an der Donau

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Zum ersten Mal werden, im Rahmen des Niederösterreichischen Donaufestivals, Gelehrte und Autoren aus den sieben Donauländern zu einer sachbezogenen und doch freimütigen Beratung zusammentreten. Zu ihnen gesellen sich Forscher und Literaten aus jenen Teilen Italiens und Polens, die mit unserem Raum geistig eng verbunden sind. Eingeladen sind auch Gelehrte aus Frankreich, England, der Schweiz und den USA, die sich mit der Donauregion befassen. Einen Gedankenaustausch dieser Art hat es noch nie gegeben.

Warum aber in Niederösterreich und warum gerade in diesem Jahr?

Das Kernland Österreichs steht seit jeher im Mittelpunkt mannigfaltiger geistiger Strahlungen; es vermochte während der letzten Jahrhunderte selbst auf die engere und weitere Umgebung auszustrahlen. Durch die Nachbarschaft zu Böhmen, Mähren und der Slowakei, durch die Nähe Ungarns waren und sind die Bedingungen eines lebhaften und natürlichen Kulturaustausches gegeben. Dieser vollzieht sich, sof erne er nicht gewaltsam unterdrückt wird, in Zehntausenden von menschlichen Verbindungen des Alltagslebens. Gemeinsame Interessen der Ökonomie und der Ökologie treten hinzu. Die Donau, die den Schwarzwald mit dem Schwarzen Meer verbindet, brachte manche Gemeinsamkeiten hervor; sie sind in Niederösterreich in ihrer Vielfalt zutage getreten. Doch reichen die Verbindungen weiter, etwa zu den italienischen Baumeistern und Vorbildern der niederösterreichischen Architektur oder an die traditionellen Verbindungen zwischen den etwa gleich alten Universitäten von Prag, Wien und Krakau. Es spricht für die Weitsicht und das Geschichtsbewußtsein des Landes, diese Tatsachen als Kräfte einer zukünftigen Entwicklung erkannt zu haben.

Die Wahl des Zeitpunkts ist wohl in Zusammenhang mit der Entstehung eines ausgeprägteren Bewußtseins der Niederösterreicher, aber auch mit wesentlichen Prozessen der europäischen Geschichte zu betrachten.

Die Haupt- und Residenzstadt Wien war für die geistigen Geschicke dieses Landes Jahrhunderte hindurch entscheidend. Wien war Mittelpunkt des Heiligen Römischen Reiches; dieses Zentrum machte sich in seiner unmittelbaren Umgebung selbstverständlich machtvoll bemerkbar. Erst mit der Gründung der Ersten Republik kam es zur Trennung in Politik und Verwaltung. Damit war ein Prozeß eingeleitet, der die kulturelle Vielfalt Österreichs vergrößern sollte. Von Wien losgelöst gewann Niederösterreich nach und nach eine eigene Identität. Dieser Identität entsprach der Entschluß, St. Pölten zur neuen Landeshauptstadt zu machen. Zugleich erkannte Niederösterreich die eigenen Dimensionen eines möglichen politischen Wirkens.

Die Entwicklung einer eigenständigen auswärtigen Kulturpolitik war die Folge. Die Entscheidung, ein Donaufestival und in dessen Rahmen eine erste Beratung über die geistigen Möglichkeiten der Donauregion zu veranstalten, ist ein Ergebnis des starken Bewußtseins niederösterreichischer Identität.

Zugleich ist dreiundvierzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa vieles in Bewegung geraten. Die ideologische Zweiteilung des Kontinents erscheint besonders an jenen Punkten widernatürlich, an denen sie den selbstverständlichen Bedürfnissen und Sehnsüchten der menschlichen Existenz widerspricht. Zudem ist eine neue Generation hervorgetreten, die — durch den erfreulichen Mangel an Erinnerungen an mörderische Zeiten — die Gründe für die seinerzeitige Zweiteilung Europas wohl versteht, aber emotionell nicht nachvollziehen kann. In dieser Lage ist es in West und Ost zu einer profunden Metamorphose des politischen Denkens gekommen.

In einer solchen Lage ist es nur selbstverständlich, daß die Gelehrten und Literaten der kleinen Völker der Donauregion über das eigene Schicksal nachdenken, ihre eigene gegenwärtige Identität klarer umreißen und über die Zukunft ihrer Nationen nachdenken wollen. Diese Zukunft ist aber in das geistige Netz der Wechselwirkungen der Nachbarschaften gleichsam eingebettet. Demokratisierung bedeutet, auch im Hinblick der politischen Historie, Po-lizentrismus. Die Vielfalt wird offenkundiger. In dieser aber ergeben sich besondere Verbindungen. Zu diesen gehört auch die Wiederentdeckung der Donauregion als geistige Einheit.

Das Symposion heißt „Modell Donauregion — Geistige Eigenart, neue Zusammenarbeit“. Was ist damit gemeint?

In keinem Teil Europas leben so viele unterschiedliche ethnische Gruppen nebeneinander, und zum Teil miteinander auf das engste verschränkt, wie gerade hier, in der Donauregion. Das Bayerische und österreichische grenzen hier an eine Vielzahl unterschiedlicher slawischer Völker, an die romanische Welt Italiens, an die romanisch-slawische Symbiose Rumäniens, an die mit Asien verbundene Kultur der Ungarn. Die Metamorphose eines Volkes in eine Nation entsprach der historischen Notwendigkeit; sie ist im 19. Jahrhundert kämpferisch und mit allen schönen Verstiegenheiten des die Zeit beherrschenden romantischen Geistes hervorgetreten und brachte unter blutigen Opfern die heute bestehenden Nationalstaaten hervor. Die alte Monarchie Österreich-Ungarn mußte in diesem Sinne zerbrochen werden; die Republik Österreich selbst wurde zu einem der Nachfolgestaaten jenes durch neue Entwicklungen überwundenen Imperiums.

Siebzig Jahre nach der Entstehung der neuen Nationalstaaten könnte eine erste Bilanz gezogen werden und auch über die Lebensfähigkeit der Denkkategorien und Gefühlsformen jener nationalen Romantik, die wohl den Notwendigkeiten des 19. Jahrhunderts entsprachen, heute aber vielleicht die Sicht auf die drängenden Aufgaben der auf Informatik aufgebauten postindustriellen Gesellschaft des dritten Jahrtausends verstellen. Die Frage lautet also: Wie kann die nationale Eigenart weiterhin gesichert, ja als unvergleichlicher Schatz der großen Schatztruhe Europas noch besser gehütet und zu noch größerer Wirkung gebracht werden gerade durch die Uberwindung von Denkkategorien und Gefühlsformen, die der Wirklichkeit seinerzeit wohl entsprochen haben, aber den Notwendigkeiten des dritten Jahrtausends nicht mehr entsprechen?

Die Antwort auf diese Herausforderung liegt auch darin, daß wir unsere Möglichkeiten wacher und tatkräftiger wahrnehmen — zu diesen Möglichkeiten gehört aber auch die Erkenntnis der stärkenden Elemente der Nachbarschaft und eine zeitgemäße Form der geistigen Kooperation.

Es könnte sein, daß diese erste Beratung über die starken, gleichwohl geheimnisvollen Wechselwirkungen, die den Donauraum mit unzähligen geistigen Fäden durchziehen, einiges bewirken kann. „Der Gedanke geht der Tat voran wie der Blitz dem Donner“, schrieb Heinrich Heine.

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