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Gemeinsame Ethik noch vorhanden"

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Die FURCHE hat namhafte Persönlichkeiten eingeladen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob unsere Gesellschaft noch eine gemeinsame Basis von Wertvorstellungen besitzt. Als ersten Beitrag bringen wir die Stellungnahme des Ordinarius für politische Wissenschaften der Universität München.

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Die FURCHE hat namhafte Persönlichkeiten eingeladen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob unsere Gesellschaft noch eine gemeinsame Basis von Wertvorstellungen besitzt. Als ersten Beitrag bringen wir die Stellungnahme des Ordinarius für politische Wissenschaften der Universität München.

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Ethik, also das philosophische Nachdenken darüber, was sittlich geboten, erlaubt oder verboten ist, war immer schon im wesentlichen das konsequente Durchdenken der „geltenden Moral". Wenn etwa Piaton oder Aristoteles ihre Tugendethik darstellten, gingen sie davon aus, daß jeder gebildete und wohlgesonnene Bürger Athens gerecht, tapfer und besonnen sein wollte, aber nicht hinreichende Klarheit darüber bestand, welche Haltungen oder Handlungen diese Bezeichnungen verdienten.

Und auch diese Unklarheit suchten sie auszuräumen, indem sie ihren Zuhörern bzw. Lesern zum Nachdenken verhalfen; man einigte sich, indem man sich darauf besann, was man „im Grunde" immer schon wußte, obwohl man es oft nicht wahrhaben wollte und nicht selten lauthals anderes behauptete.

Ethische Auseinandersetzung war Anamnese, Erinnerung an nicht hinreichend Artikuliertes oder auch schon wieder Verschüttetes.

Ob es nun Thomas von Aquin, Kant oder Max Scheler waren, gingen Ethiker nie anders vor: sie setzten voraus, daß über moralische Fragen weitgehend Einigkeit bestand, auch wenn diese in Alltagsdiskussionen nicht zum Ausdruck kam.

Wie sollte man denn auch überprüfen können, ob z.B. der „kategorische Imperativ" die sittlichen von den unsittlichen Maximen zu unterscheiden erlaubte, wenn man nicht eine Fülle zunächst un-befragter, gemeinsamer sittlicher Uberzeugungen gehabt hätte?

Kant setzt als selbstverständlich voraus, daß man nicht lügen darf, seine Versprechen halten soll und fremdes Eigentum achten muß; was er zu erklären versucht; ist, warum dies wohl gilt, wobei dann natürlich seine konkrete Antwort in einzelnen Detailfragen zu Ergebnissen führt, die sich von der geltenden Moral unterscheiden. Ethik ist der Versuch, die geltende Moral konsequent durchzudenken, zu begründen — und dabei die eine oder andere Kontroverse zu bereinigen.

Ist nun aber nicht denkbar, daß eine Gesellschaft so permissiv und/oder plural geworden ist, daß es kaum mehr ethische Grundsätze gibt, die unbestritten und allen gemein wären? Steht es nicht gar so, daß die westliche Industriegesellschaft von heute genau von dieser Art ist.

Auf den ersten Blick spricht einiges dafür. Sieht man z.B. Grundsatzdiskussionen am Fernsehen zu, kann man sich oft nicht des Eindruckes erwehren, daß die Gesprächspartner einander nicht einmal mehr recht verstehen können.

Max Weber faßte diesen Eindruck zu einer Zeit, als es noch kein Fernsehen gab, in die Behauptung zusammen, wissenschaftlich-rational könne man nur über empirische Sachverhalte, nicht über „Werte" streiten; und die ursprünglich aus Wien, Prag und Berlin herkommende, heute vor allem in den Vereinigten Staaten beheimatete „analytische Ethik" scheint ihm rechtzugeben: Ihre Vertreter streiten fast nur noch über Wortbedeutungen und Schlußfolgerungen, trauen sich aber fast nie an Gespräche darüber heran, was im einzelnen sittlich oder unsittlich ist.

Doch dieser erste Eindruck trügt. Natürlich ist richtig, daß wir uns heute deutlicher und umfassender darüber uneinig sind, was auf dem Gebiet der Moral „gilt" und was nicht.

Die einen berufen sich auf Traditionen, die anderen wollen sich von ihnen emanzipieren; die einen lehnen Gewalt ab, die anderen rechtfertigen sie mit dem Argument, sie sei bloß Widerstand gegen die „strukturelle Gewalt" der Gesellschaft und des Staates; die einen nennen Antreibung Mord,die anderen verkünden ein Recht auf den eigenen Bauch.

Doch wenn man sich etwa in die Dialoge Piatons vertieft, stellt man bald fest, daß es auch damals, fast vierhundert Jahre vor Christi Geburt, nicht viel anders stand. Der eine behauptete, man müsse das Leben genießen und angesichts der Macht sei die Berufung auf Recht dummes Geschwätz; die anderen vertraten. Glück sei nicht mit Lust identisch und die Macht des Ungerechten ein Verbrechen.

Wir müssen uns also, so scheint mir, darauf besinnen, daß die Zahl der von allen anerkannten sittlichen Grundsätze zwar vielleicht etwas geringer als früher geworden ist, solche Grundsätze aber nicht einfach verschwunden sind; wir haben nur verlernt, nachdenklich-vernünftig über sie zu streiten, anstatt erregt aufeinander einzuschlagen.

Wie viele Zeitgenossen gäbe es denn, die Abtreibung auch dann verteidigen würden, wenn sie zugestehen müßten, daß da ein Mensch umgebracht wird? Vertritt denn jemand, man könne selbstverständlich auch ein zweijähriges Kind umbringen? Bekommen wir oft zu hören, es sei tüchtig und lobenswert, ungerecht zu sein?

In Wirklichkeit besteht die Uneinigkeit doch bloß darüber, inwiefern die Leibesfrucht ein Mensch ist, und worin genau Ungerechtigkeit besteht.

Man sollte diese Gemeinsamkeiten nicht herunterspielen, etwa, indem man sie als „leere Worthülsen" bezeichnet. Gewiß sind sie dies — aber sie waren nie etwas anderes. Immer schon gab es Gemeinsamkeiten, hinter denen sich Uneinigkeit verbarg. Aber diese Uneinigkeiten konnten immer schon durch Besinnung auf das unbestritten Gemeinsame weitgehend ausgeräumt werden.

Wer meint, wir seien so pluralistisch geworden, daß wir uns kaum mehr über sittliche Grundsatzfragen einigen könnten, dem empfehle ich, bei der nächsten Diskussion über solche Fragen darauf zu achten, wie argumentiert wird.

Er wird feststellen, daß man fast nie über ethische Grundsätze, dafür aber umso mehr über empirische Tatsachen streitet. Der Streit geht darüber, was welche Waffe anrichtet, ob Ehebruch für Familie und Gesellschaft folgenlos ist, ob eine Gesellschaft ohne Privateigentum funktionieren würde — nicht darüber, daß Frieden verwerflich, oder Ehebruch eine Tugend, oder Diebstahl sittlich gut sei.

Was wie ethischer Pluralismus aussieht, erweist sich mithin bei näherem Zusehen als Uneinigkeit über Fakten. Dies mag überraschen: Man würde erwarten, daß wir zwar genau wissen, was ist, uns aber nicht mehr darüber einigen können, was sein soll.

In Wirklichkeit geht unser verborgenes, gemeinsames Wissen um das Gute und Böse sehr viel weiter, als wir gerne meinen; schließlich sind wir ja auch alle Menschen, haben eine gemeinsame Natur, und deshalb dieselben Sehnsüchte und Bedürfnisse.

Wenn es dennoch so aussieht, als gäbe es keine unbestrittenen ethischen Grundsätze mehr, so rührt dies offenbar daher, daß es uns heute schwerer als früheren Zeiten fällt, uns über die ganz empirische Wirklichkeit zu einigen.

Ideologische Auseinandersetzungen sind nur in den seltensten Fällen Diskussionen über Normen; sie sind mühselige Gespräche über eine höchst komplexe, zunehmend verschieden erlebte, in immer mehr Perspektiven zerfallende Wirklichkeit. Könnten wir uns darüber einigen, was ist, würde die Uneinigkeit darüber, was „gilt", sehr rasch verschwinden.

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