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Generalprobe des Hungers

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Wer hätte noch im Jänner dieses Jahres gedacht, daß die EWG im Sommer eine teilweise Getreideexportsperre verhängen würde? „Problematischer Überschuß“ hieß es damals in den Zeitungen, als bekannt wurde, daß die konstant steigende Getreideproduktion der (vormaligen) Sechsergemeinschaft infolge der Rekordernte 1972 eine Höhe von 80,8 Mill. Tonnen erreicht hat (1958 erst 49,8 Mill. Tonnen). Inzwischen sind einige Dinge geschehen, die gewiß keine welthistorischen Ereignisse waren, sondern sich jederzeit wiederholen können — und schon sind die Nahrungsmittelüberschüsse, die den hochentwickelten Staaten diesseits und jenseits des Atlantiks seit Jahren Kopfzerbrechen bereiten, hingeschmolzen.

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Wer hätte noch im Jänner dieses Jahres gedacht, daß die EWG im Sommer eine teilweise Getreideexportsperre verhängen würde? „Problematischer Überschuß“ hieß es damals in den Zeitungen, als bekannt wurde, daß die konstant steigende Getreideproduktion der (vormaligen) Sechsergemeinschaft infolge der Rekordernte 1972 eine Höhe von 80,8 Mill. Tonnen erreicht hat (1958 erst 49,8 Mill. Tonnen). Inzwischen sind einige Dinge geschehen, die gewiß keine welthistorischen Ereignisse waren, sondern sich jederzeit wiederholen können — und schon sind die Nahrungsmittelüberschüsse, die den hochentwickelten Staaten diesseits und jenseits des Atlantiks seit Jahren Kopfzerbrechen bereiten, hingeschmolzen.

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Gewiß, die Exportsperre der EWG betrifft bisher nur Hartweizen. Doch auch bei den sonstigen Agrarpro-dukten — ausgenommen Butter gibt es keine Uberbevorratung mehr.

Da war zunächst die vorjährige Mißernte in der Sowjetunion, die die USA — teilweise aus politischem Entgegenkommen, teilweise auch, um die lästigen Uberschüsse loszuwerden — durch umfangreiche Lieferungen überbrückte. Dazu kam noch der dritte Partner im globalen Dreiecksspiel — China —, das gleichfalls ein Nahrungsmitteldefizit hat und große Mengen Getreide, vor allem in Kanada, aber auch in den USA aufkauft.

Der Erfolg der amerikanischen Weizendiplomatie war durchschlagend — er schlug bis zum US-Konsumenten durch: die Vorratslager sind nämlich so gründlich geräumt worden, daß in den Vereinigten Staaten selbst Knappheitserscheinungen — insbesondere bei Futtermitteln — auftraten und nunmehr — um so mehr, als auch in diesem Jahr Lieferverpflichtungen gegenüber den kommunistischen Nationen eingegangen worden sind — diverse Exportsperren für Nahrungsmittel verhängt worden sind.

Seit Jahren drängten die Amerikaner den widerstrebenden Europäern ihre Agrarüberschüsse auf, die diese infolge der von Frankreich inspirierten landwirtschaftlichen Autarkiepolitik nur dosiert aufnahmen. Jetzt auf einmal sind diese Lieferungen, auf die sich die Europäer — ebenfalls in erster Linie bei Futtermitteln — auf Drängen Amerikas eingerichtet haben, in Frage gestellt. Was liegt da näher, als daß sich die Europäer auf die eigenen, bisher so lästigen Getreidevorräte besinnen und vermeiden wollen, daß diese in den Sog der internationalen Spekulation geraten, die die Weltmarktpreise seit Monaten in schwindelnde Höhen treibt? (Erst in den letzten Tagen kam es zu gelegentlichen leichten Abschwächungen.)

Eine ähnliche Situation herrscht auch bei Fleisch sowie bei vielen anderen agrarischen und sonstigen Rohstoffen. So wird beispielsweise den österreichischen Schnittholzexporteuren, die lange Jahre unter der übermächtigen Konkurrenz auf dem Weltmarkt stöhnten, momentan die Ware aus der Hand gerissen, was seit dem Koreakrieg kaum noch der Fall war.

Diese Situation zeigt deutlich, wie außerordentlich dünn die scheinbar so immensen Überschüsse des Westens im globalen Maßstab sind, und daß die Vorstellung, die westlichen Industriestaaten wären bei einigem guten Willen leicht imstande, mit ihrem allzu reich gedeckten Tisch die ganze Menschheit — die tagtäglich noch dazu explosionsartig wächst — zu ernähren, einen gefährlichen Mangel an Sinn für Proportionen zeigt.

Die momentanen Opfer dieser Fehlschätzungen sind die Bevölkerungen der nordafrikanischen Sahel-Zone und weiter Gebiete Indiens, die infolge einer langanhaltenden Dürre an akutem Nahrungsmittelmangel leiden. Nicht nur ein Transport- und Finanzierungsproblem stellt die Lieferung der gigantischen Mengen dar, die in diesen Gebieten benötigt würden, sondern auch die Tatsache, daß heute die Vorratslager der „reichen Nationen“ weitgehend geräumt sind.

Mehr Entwicklungshilfe zu fordern, gehört heute zwar zum guten Ton, aber es steht zu befürchten, daß die soziale Begeisterung der meisten Menschen nur so lange vorhält, als die Forderung nach mehr Hilfe an andere gerichtet werden kann und es zur Beruhigung des eigenen Gewissens genügt, ein paar hundert Schilling auf irgendein Postscheckkonto zu überweisen. Versuchten die Regierungen, ihre Demonstrierer und Appellierer beim Wort zu nehmen und die Lebensmittel im eigenen Land zwecks Hilfslieferungen an Afrika und Indien zu rationieren, dann würde die Stimmung sehr schnell umschlagen.

Das ist übrigens nicht nur die Haltung des „kapitalistischen“ Westens. Auch die „sozialistischen“ Staaten handeln um kein Jota anders: sie denken nicht daran, von ihrem aus dem Westen bezogenen Getreidemengen den Hungernden in der Dritten Welt etwas abzugeben — es sei denn für gezielte, aber unbedeutende Propagandaaktionen —, ja auch nur die Amerikaner aus ihren Lieferpflichten zu entlassen, um diesen die — gewiß nicht herbeigesehnte — Möglichkeit zu geben, mehr für die Notstandsgebiete zu tun.

Nun, Unterernährung ist zwar eine Dauererscheinung in vielen Entwicklungsländern, aber die akute Misere des Augenblicks, die Millionen von Menschen mit dem Hungertod bedroht, wird vorübergehen. Eine Rekordernte in der Sowjetunion, wie sie sich in diesem Jahr — angeblich — abzeichnet, eine Vergrößerung der Anbaufläche in den USA können der Welt mittelfristig aus der Patsche helfen, werden die Zeit der Überschüsse scheinbar zurückkehren lassen — bis zur nächsten Katastrophe.

Vergessen wir nicht, daß auch ohne das vorjährige Agrardebakel der Sowjets die scheinbar so großen Agrarüberschüsse des Westens kaum ausgereicht hätten, die gegenwärtige Weltbevölkerung richtig satt zu machen, geschweige denn eine gigantische Dürrekatastrophe zu überbrücken. Es besteht vielmehr die Gefahr, daß das, was heute Millionen von Menschen in Indien und Afrika durchmachen müssen, nur die Generalprobe einer Dauererscheinung von morgen in noch viel weiteren Gebieten ist.

Der Hunger in der Welt ist nicht nur ein Distributionsproblem. In erster Linie ist er eine Folge der Tatsache, daß die Menschheit schneller als die Nahrungsmittelproduktion wächst, daß wir in Zukunft — wollen wir es nicht riskieren, daß alljährlich viele Millionen Menschen verhungern — doch nach moralisch akzeptablen Methoden werden suchen müssen, um das Tempo des Bevölkerungszunahme auf ein Maß zü reduzieren, das mit den realistischen Möglichkeiten der Expansion der Er-nährungsbasis einigermaßen übereinstimmt. So wichtig und unerläßlich auch eine größere Gebefreudig-kedt der reichen Nationen ist — sie allein wird das Problem nicht lösen können.

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