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Genozid oder Ethnozid?

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FURCHE-Interview zur gefährlichen Situation der christlichen Armenier in der UdSSR

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FURCHE-Interview zur gefährlichen Situation der christlichen Armenier in der UdSSR

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FURCHE: Nach dem furchtbaren Erdbeben im Dezember 1988 stand das Schicksal der Armenier im Mittelpunkt des Weltinteresses. Wie steht es um dieses Volk heute?

HERMANN GOLTZ: Bereits Monate vor dem Erdbeben, nach einem demokratischen Referendum der Armenier im Karabach-Gebiet, setzten im Hebruar 1988 planmäßige Massaker an der armenischen Bevölkerung in der gesamten Aserbaidschanischen Republik ein, die sich bis jetzt fortsetzen. In Baku kam es zu schrecklichen Höhepunkten der Mißhandlungen. Auch der aus dem Armenierviertel Bakus stammende Schachweltmeister Jurij Kasparov konnte nur unter Lebensgefahr Verwandte vor den Pogromen retten.

Ein Bericht, den Raphael Papay-an, Mitglied des Parlaments der Armenischen Republik, im Februar 1991 der UNO-Menschenrechts-kommission in Genf vorgelegt hat, zeigt weitere Techniken der Verfolgung und Unterdrückung. Durch gemeinsame Aktionen von Militär und Miliz werden die lokalen Regierungen ausgeschaltet. Es kam zu ungesetzlichen Festnahmen vieler Personen, darunter waren in Ka-rabach auch neun Abgeordnete. Es handelt sich dabei nicht um Ereignisse, die nur für ein Gebiet der Sowjetunion typisch sind. Vielmehr erscheinen die Methoden der Unterdrückung der demokratischen Kräfte in Karabach als eine Art Test- und Modellfall für andere Gebiete, wie spätere Ereignisse - in Mittelasien, in Moldawien, in der Ukraine und im Baltikum - zeigen.

Ich möchte daran erinnern, daß Erzbischof Kirill, der Präsident des Kirchlichen Außenamtes beim Moskauer Patriarchat, während der Vollversammlung des Weltkirchenrates in Canberra im Februar 1991 darauf aufmerksam machte, daß bis heute in Karabach täglich Dutzende von Menschen umgebracht werden und die Region sich in einem kriegsähnlichen Zustand befindet.

Bereits im Osmanischen Imperium wurden an die zwei Millionen Armenier vertrieben und vernichtet. In diesem ersten Genozid an diesem Volk ist auch vieles von der armenischen Kultur zugrundegegangen. Nach langen Zeiten der Verdrängung des Faktums des armenischen Völkermordes im Ersten Weltkrieg haben erst 1986dieUNO-Kommission für Menschenrechte und 1987 das Europa-Parlament diesen Genozid offiziell konstatiert.

FURCHE: Waren in die Armenier-Pogrome in Aserbaidschan auch amtliche Stellen verwickelt?

GOLTZ: Ja, man bediente sich zum Beispiel planmäßig zusammengestellter Adressenlisten, durch die man die armenischen Familien in ihren Wohnungen systematisch ausfindig machen konnte. Nicht wenige aserbaidschanische Familien, die armenischen Nachbarn helfen wollten, wurden in Mitleidenschaft gezogen. Sehr verräterisch ist die bewußte Passivität der Miliz, sei dies 1989 in Sumgait oder 1990 in Baku. Aus eigener Kenntnis „real-sozialistischer" Systeme muß ich sagen, daß solche furchtbare Ereignisse ohne indirekte oder direkte Einwilligung des Apparates der Staatssicherheit in der Sowjetunion unmöglich sind. Auch die Zurückhaltung der Truppen des „Zentrums", die des Innenministeriums eingeschlossen, hat vieles von dem Furchtbaren, das geschah, erst ermöglicht. Erst post factum rückten die Truppen zum Beispiel in Baku ein, interessanterweise in dem Moment, als die Armenierpogrome in aserbaidschanische Unabhängigkeitsdemonstrationen umschlugen.

Vorher aber waren in mittelalterlicher Weise Opfer aus dem Fenster gestürzt, am Bahnhof von Baku Flüchtlinge in einem Umzugs-Container bei lebendigem Leibe verbranntworden. Unter unmenschlichen Bedingungen haben sich Tausende von armenischen Flüchtlingen auf Frachtschiffen über das Ka-spische Meer in Sicherheit gebracht, wobei man die heutige Situation der Mehrheit dieser Flüchtlinge nicht als „sicher" bezeichnen kann.

FURCHE: Es gibt widersprüchliche Meldungen. Doch die Unabhängigkeitsbewegungen im Transkaukasus werden offenbar stärker...

GOLTZ: Wir müssen uns darüber klar sein, daß eine nationale Befreiung der Völker der Sowjetunion für die ganze Welt gewaltige neue, besser: alte, Aufgaben bringt: Die Konflikte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts müssen noch gelöst werden, nachdem die Friedhofsruhe des Stalinismus vorüber ist. Die Entwicklung, so notwendig sie ist, bringt besonders für das armenische Volk große Gefahren.

Werden im Transkaukasus nicht neue Sicherheitsstrukturen geschaffen, sind in der weiteren Perspektive nicht nur die Armenier in Aserbaidschan von Vertreibung und Vernichtung betroffen, es stellt sich dann auch die Existenzfrage für die drei Millionen Armenier der kleinen Armenischen Republik, die nur ein Rest des ursprünglichen armenischen Siedlungsgebietes zwischen Sewan-, Wan- und Urmia-See ist. Im Kräftespiel der nationalen Interessen und religiösen Spannungen sind die Armenier in der gesamten Region eine gefährdete Minderheit, für die es in wenigen Jahren vielleicht nur noch die „Wahl" zwischen Genozid und Exodus gibt.

FURCHE: Was würde ein Exodus aus dem alten armenischen Kerngebiet um Etschmiadzin und Jerewan für die Existenz der ganzen armenischen Nation bedeuten?

GOLTZ: Ein solcher Exodus muß in jeder nur möglichen Weise unnötig und unmöglich gemacht werden. Es wäre zwar das letzte Mittel, um den endgültigen Genozid an diesem christlichen Volk zu verhindern, aber er würde doch zumindest den Vollzug des Ethnozids an den Armeniern bedeuten, das heißt, er würde das ganze Volk von seiner bodenständigen Kultur trennen und das Zentrum der Identität der weltweit zerstreuten Armenier der ZerStörung anheimgeben.

Heute sehen nämlich an die drei Millionen Diaspora-Armenier außerhalb der UdSSR sowie die etwa eine Million starke Diaspora-Gruppe innerhalb der UdSSR in dem kleinen Restgebiet der Armenischen Republik die Basis ihrer Identität. Hier liegt das Zentrum des armenischen Christentums, nicht so sehr in der Republikhauptstadt Jerewan, sondern vielmehr in der „Mutterkirche" und dem Kloster Etschmi-adzin. Hier befindet sich auch der Sitz des obersten Patriarchen aller Armenier, der „Wehapar" („Majestät") tituliert wird und das eigentliche Haupt der Nation nach dem Verlust staatlicher Selbständigkeit ist. Nach Etschmiadziri* pilgert das armenische Volk aus allen Kontinenten. Das Katholikat von Etsch-miadzin ist Mitglied der Konferenz Europäischer Kirchen und des Weltkirchenrats.

Der Ethnozid, von dem ich sprach, ist aber nicht nur eine Bedrohung für die Zukunft. Es ist leider seit Jahrzehnten nicht nur auf der türkischen Seite, sondern auch im Transkaukasus im Gange. Zeugnisse armenischer Kultur sind zum großen Teil zerstört worden.

FURCHE: Was weiß man über die Lage der Armenischen Apostolischen Kirche in der Russischen Föderativen Republik (RSFSR)?

GOLTZ: Auf dem riesigen Gebiet der RSFSR waren vor 1985 für etwa eine Million Armenier lediglich sechs armenische Kirchen geöffnet, und dies nur im europäischen Teil. Auch heute ist über das Schicksal Tausender Armenier im asiatischen Teil der UdSSR nur wenig bekannt.

Im Verlauf der letzten fünf Jahre ist nach Angaben von Bischof Tiran, dem Leiter der armenischen Diözese von Rußland, eine ganze Reihe von Gemeinden zugelassen worden. Zum Beispiel wurden in Leningrad den etwa 40.000 Armeniern der Stadt die kleine Auferstehungskirche auf dem Smolenskoye-Friedhof und nun auch die klassische armenische Kirche Leningrads, die Katharinenkirche am Newski-Prospekt, die aus dem 18. Jahrhundert stammt, zurückgegeben. In Moskau leben ständig etwa 120.000 Armenier, denen nur eine einzige kleine Kapelle auf dem Moskauer Armenier-Friedhof zur Verfügung steht. Diese große armenische Gemeinde braucht unbedingt eine neue Kirche samt einem Sonntagsschulgebäude. Die alte armenische Kirche Moskaus wurde in den stalinistischen Verfolgungen zerstört und auf den Grundmauern ein anderes Gebäude errichtet.

FURCHE. In welchem Zustand befinden sich die Kirchen? Sind nicht auch Neugründungen nötig?

GOLTZ: Die noch vorhandenen Kirchen befinden sich in einem ruinösen Zustand und bedürfen dringend der Überholung. So die Kirche in Rostow am Don, wo sich das historische Siedlungszentrum der Armenier Nor-Nachitschewan befindet. Auch in den Städten Kras-nodar, Pjatigorsk, Noworossijsk, Sotschi und Stawropol wurden armenische apostolische Kirchengemeinden registriert. Für sie müssen neue Kirchen errichtet werden. Bischof Tiran versucht, durch den Druck und Verkauf von armenischen und russischen Kinderbibeln sowie weiterer christlicher Literatur einen Teil der Finanzen für diesen Zweck zusammenzubringen.

Kirchen und andere Gebäude benötigen die armenischen Christen in der RSFSR nicht nur für die dort ansässigen Armenier, sondern auch für die etwa 200.000 Flüchtlinge aus Aserbaidschan (ebenso-viele sind in die Armenische Republik geflohen). Obwohl diese großen Flüchtlingsgruppen in der Russischen Republik unter großer materieller und seelischer Not leiden, werden sie weder von der Regierung der UdSSR noch von der Regierung der RSFSR noch von der ökumenischen oder internationalen Gemeinschaft systematisch und ausreichend unterstützt.

FURCHE: Hat nicht eine Gruppe armenischer Intellektueller die Überführung armenischen Kulturgutes aus den gefährdeten Gebieten nach Etschmiadzin gefordert?

GOLTZ: Das trifft zu. Eine solche Bitte wurde zum Beispiel ausgesprochen, nachdem am 24. Dezember 1989 die Bischofskathedrale der Armenier in Baku überfallen und verwüstet worden ist. Solche Schutzmaßnahmen sind notwendig, aber sehr schwer zu verwirklichen. Das armenische Volk und sein kulturelles Erbe können wirkliche Sicherheit nur dann genießen, wenn die internationale Staatengemeinschaft entschlossene Präventiv-Schritte unternimmt.

Das Gespräch mit Prof. Hermann Goltz, Studiensekretär der Konferenz Europäischer Kirchen in Genf, führte Felizitas von Schönborn.

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