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Genügt der Reiz des Neuen?

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Es ist eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts, daß auf sogenannter wissenschaftlicher Basis im Bereich der Pädagogik Experimente gemacht werden, deren Ergebnisse mit größtem Optimismus auf die verschiedenen pädagogischen Situationen extrapoliert werden. In welchem Ausmaß Expertimente auf diesem Gebiet ihre Berechtigung haben, wird kaum reflektiert

Die Voraussetzungen zu dieser Haltung hat der vor allem in Amerika entwickelte Behaviorismus geschaffen. Man findet sie in den Büchern meist amerikanischer Herkunft, die den Lesern Erfolg und Beliebtheit bei den Mitmenschen versprechen, wenn sie nur genau festgelegte Rezepte anwenden. Die Grundlage einer solchen Einstellung ist der Materialismus. Wenn der Mensch nichts anderes als Materie ist, so wird auch er wie die Materie auf genau berechnete Einwirkung genau berechenbar reagieren.

Allerdings muß eingeräumt wer-., den, daß der naive Glaube an eine absolut sichere Wirkung von Erziehungsrezepten bereits schütterer geworden ist. Der Wahrscheinlich-

keitsbegriff kommt der Sache schon näher. Eine statistisch zu erfassende Mehrheit verhält sich unter bestimmten Bedingungen auf eine mehr oder minder voraussehbare Weise.

Wer möchte hier nicht eine Parallele zu den Naturwissenschaften sehen? - Hier hat man den Begriff der statistischen Wahrscheinlichkeit eingeführt, nachdem durch die Quantentheorie erwiesen wurde, daß das Geschehen im Mikrokosmos nicht in strenger Gesetzmäßigkeit verläuft.

Wenn es also schon in der unbelebten Materie keine streng bestimmte Abfolge von Ereignissen gibt, um wieviel weniger dann bei Lebewesen und um wieviel weniger beim Menschen!

Die moderne Physik hat aber noch etwas anderes erkannt: nämlich die Grenzen des Experiments.

Es galt doch lange Zeit geradezu als Kriterium des Unterschiedes zwi-. sehen objektiver Außenwelt und subjektiver Innenwelt, daß die Innenwelt durch Beobachtung und Analyse gestört wird, während die Außenwelt unbeeinflußt bestehen

bleibt, ob wir uns mit ihr beschäftigen oder nicht.

Im 20. Jahrhundert jedoch hat sich eine Verschiebung vollzogen, aber nicht zugunsten der Objektivierbar-keit, im Gegenteil: Im Bereich der atomaren Erscheinungen ist eine objektive Beobachtung nicht mehr möglich. Jede Beobachtung, jede Messung bedeutet einen Eingriff in

diese Welt. Die kleinsten Teilchen reagieren auf die Beobachtung. Darum ist es eine falsche Annahme, daß wir die Welt beschreiben könnten, ohne von uns selbst zu sprechen. Ein Ausspruch des großen Physikers Niels Bohr gehört hierher: „Bei der Suche nach Harmonie im Leben dürfen wir nicht vergessen, daß wir gleichzeitig Zuschauer und Mitspielende sind."

Diese Haltung bestimmt die Einstellung der Naturwissenschaftler zu ihrer exakten Wissenschaft. Davon aber scheinen Wissenschaftler, die sich mit dem Menschen beschäftigen (wie etwa die Pädagogen), noch weit entfernt zu sein. Von dieser Seite werden uns Beobachtungen serviert samt den dazugehörigen Ursachen, Folgerungen und natürlich mit imperativen Forderungen für den, der sich in der Praxis mit Menschenbildung beschäftigt Abgesehen von der von der Psychologie erkannten Tatsache, daß wir unsere Wünsche in die Wahrnehmungen hineinprojizieren, darf man nicht vergessen: Man kann keine Beobachtungen am Menschen machen, „ohne von sich selbst zu sprechen."

Man berücksichtigt nicht die geistige Atmosphäre, die geistige „Umwelt" des Individuums, die sich schlagartig ändert, sobald das Individuum beobachtet wird; schon allein dadurch, daß sich das Individuum beobachtungswürdig weiß, fühlt es sich herausgehoben.

Daher die großen Mißerfolge von gewissen Erziehungstheorien in der Praxis. Wie großspurig wurde etwa

die antiautoritäre Erziehung verkündet und welch klägliche Ernte wurde eingebracht! Es ist ja ein Unterschied, ob der Erzieher dem Kind partnerschaftlich begegnet in einer strengen, puritanischen Umwelt, oder ob er dieselbe Haltung in einer Umwelt zeigt, die dem Heranwachsenden jede Freiheit läßt

Man kann also auf Grund von Experimenten oder Beobachtungen keine gültigen Rezepte erstellen; man müßte dazu die ganze Welt in ihrer zeithchen und räumlichen Dimension miteinbeziehen, da es ein „Isoliertes System" (in der Physik) oder den isolierten Menschen (in der Psychologie und Pädagogik) nicht gibt.

Die Ergebnisse von pädagogischen Experimenten werden also meiner Meinung nach zu leichtfertig absolut gesetzt. Beispiele gibt es genug.

Schulversuche werden allenthalben mit mehr oder weniger großer Begeisterung durchgeführt. Die Begeisterung ist größer, wenn sich Lehrer und Schüler in einer Ausnahmesituation wissen. Sie fühlen sich als Pioniere. Die Frische des Anbeginns hält alle in Schwung. Es ist nicht zu übersehen: Lehrer und Schüler fühlen sich aus der Masse herausgehoben, und das ist nun einmal eine Motivation, die man bei allen Nivellie-rungstendenzen und Gleichheitsidealen nicht übersehen darf. Aus diesem Schwung heraus lassen sich viele Erfolge erklären.

Wenn die „Neue Schule" institutionalisiert ist, wird der Reiz des Neuen verlorengehen. Die Lehrer müssen sich umstellen, und die Schüler müssen dann die neue Schule besuchen. Werden die Schüler besser, ergiebiger und vor allem mit mehr

Freude lernen als bisher? Es ist ein Unterschied für die Person, ob sie sich in einer Ausnahmesituation befindet oder ob die Einrichtung für alle gilt. Vielleicht erkennt man dann zu spät, welche Werte man über Bord geworfen hat, solide Erfahrungen, bewährte Weisheiten.

Ebenso müssen die Demokratisierungstendenzen an den Schulen zu denken geben. Unbestritten ist die Demokratie die Staatsform, die dem mündigen Menschen am besten entspricht Die Schüler sollen sich zu demokratisch denkenden und handelnden Menschen entwickeln. Demokratie ist zwar die beste Form des Zusammenlebens, aber trotzdem nichts Vollkommenes. Es geht also nicht an, das Attribut „demokratisch" gleichsam als modernen Heiligenschein zu verwenden. Alle anderen ethischen Werte hat man relativiert, für jede menschliche Schwäche hat man Verständnis, nur der „Un-demokrat" ist verabscheuenswert.

Daher muß alles auf Biegen oder Brechen demokratisiert werden. Bereits Piaton erkannte: „Das extreme Trachten nach dem, was in der Demokratie für gut gilt, stürzt die Demokratie." Wollen wir durch Uber-treibung das Gegenteil erreichen?

Alle Dinge muß der Schüler erst lernen; wenn er Fehler macht, so greift der Lehrer korrigierend ein. Die Demokratisierung in der Schule setzt aber nicht mehr den lernenden Schüler voraus, sondern den bereits ausgereiften.

Bei einzelnen Versuchen dieser Art mögen die Schüler wohl verantwortungsbewußt entschieden haben. Es war ja die oben genannte Ausnahmesituation. Können aber diese Einrichtungen ebenso funktionieren, wenn sie zum Gesetz geworden sind? Wird man nicht im Zuge der „Gefälligkeitsdemokratie" immer wieder Erleichterungen beschließen, bis schließlich vor lauter Freizügigkeit das Schulleben für alle unerträglich geworden ist?

Auch hier gilt das oben Gesagte: Der Versuch ist etwas anderes als die verpflichtende Einführung. Sobald etwas verbindlich eingeführt ist, haben sich die Bedingungen, die Umwelt geändert.

(Die Verfasserin ist Hauptschullehrerin in Rohrbach im Mühlviertel)

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