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Geplantes und gewolltes Patt

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Nach Verhandlungen, die insgesamt dreißig Monate in Anspruch genommen haben, unterzeichneten Richard Nixon und Leonid Breschnew in Moskau das SALT-Abkommen und setzten mit ihren Unterschriften den Schlußstrich unter ein langwieriges Hin und Her um technische Details, die untergeordnet schienen, es aber keineswegs waren. Denn wenn irgendwo der Teufel im Detail zu stecken drohte, dann in dieser Abmachung, deren Resultat allerdings, wenn man es genau betrachtet, eher dürftig anmutet.

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Nach Verhandlungen, die insgesamt dreißig Monate in Anspruch genommen haben, unterzeichneten Richard Nixon und Leonid Breschnew in Moskau das SALT-Abkommen und setzten mit ihren Unterschriften den Schlußstrich unter ein langwieriges Hin und Her um technische Details, die untergeordnet schienen, es aber keineswegs waren. Denn wenn irgendwo der Teufel im Detail zu stecken drohte, dann in dieser Abmachung, deren Resultat allerdings, wenn man es genau betrachtet, eher dürftig anmutet.

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• Demnach soll die Zahl der Atomraketen auf beiden Seiten nicht mehr erhöht, sondern auf dem Iststand eingefroren werden.

• Die Zahl der Abwehrraketen, der Antiraketen, die bekanntlich ebenfalls mit atomaren Sprengsätzen ausgerüstet sind, wurde für beide Seiten auf 200 beschränkt.

• Die Zahl der Atom-U-Boote wird ebenfalls auf dem gegenwärtigen Stand verharren, wobei die bereits in Bau befindlichen U-Boote fertiggestellt werden dürfen. Die Sowjetunion hat derzeit noch 17 mit Atomraketen bestückte Unterseeboote in Bau.

So betrachtet, stellt sich das amerikanisch-sowjetische Abkommen eigentlich keineswegs als ein besonderer Erfolg für Friedenstauben dar. Die Zahl der Angriffsraketen zu erhöhen, wäre ohnehin für beide Seiten nutzlos gewesen, angesichts eines „Overkill“, der es den beiden Supermächten heute gestattet, einander schätzungsweise fünf- bis siebenmal zu vernichten, so daß jede weitere Atombombe oder Atomrakete nutzlose Verschwendung wäre. Man kann auch den bösesten Feind nur einmal erschlagen.

Anderseits aber Ist es keiner der beiden Seiten verboten, ihre gegenwärtigen Vernichtungswerkzeuge durch noch perfektere zu ersetzen. Der positive Aspekt des Abkommens kann daher keineswegs darin gesehen werden, daß die Laboratorien des Todes jetzt etwa zusperren und die dafür aufgewendeten Mittel für nutzbringendere Dinge aufgewendet werden können. Nach wie vor traut jede Supermacht der anderen einen Angriff zu, sobald sie selbst mit ihrer Atomrüstung in die Hinterhand gerät; daher muß auch das Arsenal, soweit es quantitativ auf Grund des Abkommens nicht mehr vergrößert werden darf, zumindest qualitativ auf dem letzten Stand gehalten werden.

Wem der Vertrag von Moskau mehr nützt, den Russen oder den Amerikanern, läßt sich heute noch nicht absehen. Die Russen haben mehr Atomsprengköpfe, dafür verfügen die Amerikaner über Mehrfachsprengköpfe, die aus getrennten, für verschiedene Ziele bestimmten Atomsprengladungen zusammengesetzt sind; überdies über mehr Atombomben für den Abwurf aus Flugzeugen, über mehr taktische Atomwaffen, über die bessere strategische Position.

Denn die USA können die Sowjetunion strategisch von drei Seiten umfassen, was wiederum die Sowjetunion veranlaßt, durch eine enorme Verstärkung ihrer Flotte einen Ausgleich zu schaffen. Was in den 30 Monaten der SALT-Verhand-lungen ausgearbeitet wurde, ist ein echtes Patt, ein geplantes Patt, das jedem Sicherheit verspricht. Letzten Endes ist dieses Vertragswerk die politische Konsequenz einer theoretischen Einsicht, die im Westen als Erster zumindest in dieser Klarheit MacNamara formuliert hat und die man auf den Nenner bringen könnte: Jede Atommacht muß nicht nur Angst haben, der Gegner könnte zu stark werden, sondern ebensoviel Angst, sie selbst könnte zu stark werden; denn wenn die eigene Angriffskraft der des Gegners über den Kopf zu wachsen droht, könnte ihn gerade dies zum Präventivschlag veranlassen. Daher ist jede Supermacht an einem Gleichgewicht der Kräfte, eben an einem Patt, interessiert, da ja keine der Supermächte einen Krieg will.

Die europäische Presse und viele Rundfunkkommentatoren haben den Vertrag mit erheblichem emotionellem Aufwand begrüßt und gelobt. Ganz befriedigend haben die Verhandlungen zweifellos nicht geendet, das dürften die Gegenspieler Nixon und Breschnjew auch gespürt haben, so daß sie sich entschlossen, durch eine Anzahl von Zusatzverträgen neue Sicherheiten einzubauen, um ihren Völkern etwas mehr zu bieten. Was besonders Nixon notwendig hat, denn sein ganzes Tun und Lassen wird ja wesentlich von den Herbstwahlen diktiert.

Als bedeutendstes Ereignis des SALT-Vertrages kann neben einem gewissen Plus an Sicherheitsgefühl für die Völker der Verzicht auf den perfekten . atomaren Selbstschutz der Supermächte durch Gürtel von Antiraketenraketen gesehen werden. Dieser Superschutz würde Investitionen benötigen, die selbst die amerikanische Volkswirtschaft weit überfordern würden; hätten sich die Supermächte dazu entschlossen, ihr jeweiliges gesamtes Territorium (oder zumindest alle wichtigen Ballungsgebiete) derartig abzusichern, hätten beide Mächte sicher einen großen Teil ihrer innenpolitisch wichtigen sozialen Budgetansätze sowie ihre Auslandsunterstützungsprogramme zusammenstreichen oder gänzlich streichen müssen. Und dabei hätte solcher perfekte Selbstschutz die Kriegsgefahr nur vergrößert, denn jeder hätte dem selbst perfekt geschützten Gegner eine Aggression um so mehr zugetraut. Daß man sich darauf beschränkt, nur die jeweilige Hauptstadt und einen industriellen Schwerpunkt perfekt abzusichern, ist immerhin als wesentlicher Fortschritt zu werten.

Ansonsten haben sich beide Mächte auf dauernde Kontakte geeinigt und einander ihrer ernsten Absicht versichert, sich nicht etwa durch Verbündete in eine Lage i manövrieren zu lassen, die zu einer Konfrontation der Supermächte führen könnte: Daher auch die Absage Moskaus an Kairo. Die Sowjetunion wünscht keinen Krieg an der nahöstlichen Front.

Sadat hat verstanden. Seine letzte Rede war auf Moll gestimmt. Er ist sich der Russen nicht mehr sicher. Was aber die Sicherheit der ganzen Welt betrifft, so bleibt sie nach wie vor auf den guten Willen der Supermächte gegründet.

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