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Gerade die Architekten sollten im Leben stehen

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„Ein Karlsplatz darf einfach nicht passieren!” poltert der Rektor der Technischen Universität Wien, der Architekt Ernst Hiesmayr. Es fehlt einfach jede Einsicht, was man tun darf und was man nicht tun darf, meint er. Dort, wo von Natur aus ein Loch ist, kann man keinen Hügel aufwerfen und an einem Einschnitt des Wientales darf man keinen Berg hinsetzen. Nicht nur rationelles Denken braucht der Architekt, er muß sich auch eine gewisse Portion untrügliches Gefühl bewahren. Viel Schuld gibt der Rektor dem Schwund allgemeinbildender Fächer. Ganz vehement jedoch fordert er, anläßlich eines Pressegespräches, ein Praxisjahr vor dem Studium. Auf diese Weise, hofft er, würden die jungen Leute motiviert werden. Denn viele wissen gar nicht, wenn sie inskribieren, was sie eigentlich studieren wollen. Das Resultat ist dann, daß nur die Hälfte der Studenten ihr Studium tatsächlich zu Ende führt.

Viele, viel zu viele wollen Architektur studieren. Sie stellen sich vor, einmal als ein Star Erfolg zu haben. So entscheiden sich von 8400 Studenten auf der TU in Wien 1258 für die Architektur. Warum gehen sie nicht an die Akademie für bildende Kunst? Auch dort wird dieses Fach angeboten. Aber an der TU gibt es keine Aufnahmsprüfung. Sie wollen die „Künstler” der Technischen Universität sein. Den meisten fehlt jeder Praxisbezug, dafür demonstrieren sie ein dringendes Bedürfnis, sich von der „kommerzialisierten” Welt abzusetzen. Wird die Akademie konkret und verlangt etwa als Diplomarbeit, den Bauernhof von den heutigen Bedürfnissen und technischen Erfordernissen her neu zu definieren, dann versuchen ausgerechnet die Architekturstudenten der TU, deft-.JIsojvkreftn Aufgabe möglichst auszu weichen.

Mehr Frauen in die Technik

Doch gerade die Architekten müssen mit beiden Beinen im Leben stehen. Daher wird schon im ersten Jahr die Konfrontation mit dem Beruf gefordert, was leider im neuen Studiengesetz noch nicht berücksichtigt wird.

Die Technische Universität möchte mehr Mädchen und Frauen zum Studium animieren. Sie ist bestrebt, ihr allzu männliches Image zu ändern. Technikstudium ist keine Frage der Intelligenz, Frauen haben oft mehr Bezug zum Leben. Es gibt wesentlich mehr Frauen, als jetzt die TU besuchen, die sich hervorragend, vor allem in der Forschung, qualifizieren könnten, meint Hiesmayr.

Auch wenn die Bedarfsprognosen der Schweiz auf Österreich nicht anwendbar sind, so beunruhigen doch immer wieder Meldungen aus dem Ausland, daß Absolventen der Technik keinen Arbeitsplatz mehr finden können. In Österreich aber gibt es noch genügend Disziplinen, die zum Teü unterbelegt sind, zum Teil enorme Entwicklungschancen aufweisen. Zukunftsweisende Fächer, die sicherlich nicht der Gefahr einer Uberfüllung laufen, bietet vor allem die Elektrotechnik im allgemeinen, speziell Elektronik und Informatik. Letztere steht überhaupt erst im Anfangsstadium einer ungeahnten Entwicklung.

Erdbeben im Versuch

Außer den klassischen und bekannten Fächern der Technischen Universität - Architektur, Hoch- und Tiefbau, Maschinenbau, Vermessungswesen, Elektrotechnik, Mathematik, Chemie und Physik - stellen sich heute auch weniger bekannte Fächer dieser Bildungsanstalt für. ganz konkrete und aktuelle Aufgaben der Allgemeinheit zur Verfügung. So haben etwa die Lehrkanzeln für analytische und für allgemeine Mechanik einen Modellversuch zur Simulation von Erdbeben durchgeführt. Anlaß war das katastrophenreiche Jahr 1976, das das Problem einer erdbebensicheren Bauweise aufwarf. Wenn auch in Österreich Starkbeben relativ selten registriert werden, so sind doch vor allem Großbauten, wie Staudämme, Talsperren, Kraftwerksanlagen oder Brücken, deren Beschädigung oder Zerstörung verheerende Folgen haben könnten, so zu gestalten, daß sie auch schweren Beben standhalten können. Die Simultation von Erdbeben, ganz gleich auf welchem Boden und von welcher Dauer sie stattfinden und welche Teile der Konstruktion gefährdet sind, kann heute als weitgehend gelöst gelten. Aus der Bebensimulation können die hoch beanspruchten Stellen eines Bauwerkes ersehen werde», so daß-die Konstruktion dann mit besonderer s Sorgfalt durchgeführt werden kann.

Im Institut für Geodynamik setzt man sich derzeit .intensiv mit dem Problem von Bergrutschen, Muren oder Felsstürzen auseinander. Die Alpen bleiben in Bewegung, der Mensch kann sie nicht zur Ruhe bringen. Aber er kann die Bewegungen vorausberechnen und damit Vorsorge treffen, daß die Folgen nicht zur Katastrophe werden. Er kann das Abholzen verhindern, unstabile Hänge verbauen, einen Stausee anlegen, durch Drainagen dem inneren Wasserdruck entgegenwirken. Er kann es, wenn der Wissenschafter die notwendigen Berechnungen durchführt

Mit Hilfe der Elektronik

Mit einem ganz anderen Problem, außerhalb der Routinearbeit, beschäftigen sich Assistenten der Institute für allgemeine Elektrotechnik und für physikalische Elektronik: mit einer implantierbaren Hörhilfe für ein ertaubtes Innenohr. Mit einem externen Sender werden drahtlose Reizimpulse auf einen hinter dem Ohr implantierten winzigen Empfänger übertragen. Dieses Gerät enthält auf wenigen Quadratmillimetern Hunderte von Transistoren. Noch ist nur eine Übertragung von Geräuschen, noch keine Sprachübertragung möglich. Wie lange wird es noch dauern, bis die technische Wissenschaft dem Tauben das Gehör wiederzugeben imstande ist?

Mit 8400 inskribierten Studenten ist der Plafond erreicht, meint Rekotor Hiesmayr. In den nächsten Jahren rücken zwar noch geburtenstarke Jahrgänge nach. Trotzdem ist an eine Ausweitung nicht gedacht. Die Vielfalt der Aufgaben, die große Verantwortung, die den Absolventen der Technischen Universität erwartet, verlangt den „richtigen”, den kreativ veranlagten Studenten. Nicht nur Jus und Medizin sollten von den Jungen bevorzugt werden, die gewillt sind, selbst schöpferisch tätig zu werden. Die Technik benötigt sie heute in viel größerem Ausmaß als früher, um ihre Aufgaben erfüllen zu können.

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