7027542-1989_17_06.jpg
Digital In Arbeit

Geriatrikum in Lainz ?

19451960198020002020

Jetzt muß die Gunst der Stunde genützt, Altersmedizin als Fach etabliert und die Versorgung der Alten reformiert werden, meint der Internist Professor Anton Neumayr.

19451960198020002020

Jetzt muß die Gunst der Stunde genützt, Altersmedizin als Fach etabliert und die Versorgung der Alten reformiert werden, meint der Internist Professor Anton Neumayr.

Werbung
Werbung
Werbung

Ein Österreicher, der in die USA ausgewanderte Leopold Nasher, prägte vor dem Ersten Weltkrieg den Begriff Geriatrie für Altersmedizin. Ein Österreicher, Hermann Schlesinger, schrieb vor dem Zweiten Weltkrieg ein Standardwerk über Alfter smedizin. Auch der Aufbau der Lainzer Pflegeanstalt in ihrer heutigen Form nach dem Zweiten Weltkrieg durch Walter Doberau-

er kann als Leistung von internationalem Rang gewertet werden.

Heute gibt es in Europa nur drei Länder ohne einen Lehrstuhl für Geriatrie. Österreich ist neben der Türkei eines davon, bekannt wurde dies vergangene Woche durch einen „Club 2“, zu dem das Fernsehen Fachleute gebeten hatte. Anlaß: die Mordserie im Lainzer Krankenhaus. (FURCHE 16/ 1989)

Univ.-Prof. Dr. Anton Neumayr, Internist, ehemaliger Leiter der Rudolfstiftung, ergriff die Gelegenheit, auf diese Situation hinzuweisen, und machte konkrete Vorschläge, die sicher in der von der Stadt Wien einberufenen internationalen Expertenkommis-

sion eine Rolle spielen werden.

Österreich muß nachholen, was es verschlafen hat und in der Altersmedizin dem internationalen Standard gerecht werden. Es handelt sich dabei um keine neue Forderung, auch haben keine Mini-sterialbürokraten die Schaffung des Lehrstuhles für Geriatrie blockiert. Vielmehr besorgten dies Primarii, die der Ansicht waren, für ihre Fächer in deren Gesamtheit zuständig zu sein und sich nicht bereit zeigten, Teilaspekte davon an Vertreter eines neuen, die traditionellen Disziplinen übergreifenden Faches abzugeben. Natürlich überträgt sich die von den Professoren ausstrahlende Gewißheit, alles fürs Fach Wichtige zu lehren, auf die nächste Generation, die sich so ihres altersmedizinischen Wissensdefizits nicht einmal bewußt wird.

Obwohl mittlerweile in fast jedem Land, das auf sich hält, die Geriatrie ein selbständiges Fach darstellt und in den USA wie in Europa Dutzende geriatrische Universitätsinstitute bestehen, könnte man, so Neumayr, wenn kein Lehrstuhl durchsetzbar ist, wenigstens mit Lehraufträgen beginnen, denn nicht einmal die gibt es. Damit würde jenen der Wind aus den Segeln genommen, die sich hinter dem Argument verschanzen, ein Professor der Geriatrie müsse ein wahrer Tausendsassa sein, habe er doch für die Geronto-Orthopädie ebenso zuständig zu sein wie für Innere Medizin oder Psychologie des alten Menschen.

Neumayr sieht denn auch eine der wichtigsten Aufgaben eines Lehrstuhls oder Instituts in der koordinierenden Funktion, die derzeit nicht wahrgenommen wird. Ohne sie werden die Reformen, die niemand für eine Notwendigkeit hielt, bevor die Patientenmorde geschahen, kaum gelingen. Daher ist jetzt der Zeitpunkt dafür. Und man sollte sich nicht mit der halben Maßnahme punktueller Lehraufträge begnügen und den seit langem geforderten Lehrstuhl schaffen. Es wäre eine dankbare Aufgabe für einen neuen Wissenschaftsminister, mit der dauerhaften Lösung eines von den Vorgängern lustlos vor sich hergeschobenen Problems in die Geschichte einzugehen.

Wenn Wien und Österreich die

Chance nutzen, könnten noch viel weiterreichende Impulse von hier ausgehen. Der steigende Anteil alter Menschen an der Bevölkerung stellt auch andere Länder vor schwerwiegende Probleme. Sie sind gewiß nicht leicht lösbar, und ihre Bewältigung wird Geld kosten. Aber Anton Neumayr ist von der prinzipiellen Möglichkeit einer humanen, menschenwürdigen Lösung, welche die finanziellen Möglichkeiten nicht überfordert, fest überzeugt.

Die Morde haben sich zwar im Lainzer Krankenhaus ereignet, aber es fielen ihnen vorwiegend alte Menschen zum Opfer, und sie belasten nicht nur den Ruf des Krankenhauses, sondern auch das Pflegeheim. Neumayrs Vision wäre ein altersmedizinischer Komplex in Lainz, in dem die ge-rontologische Forschung eine Heimat fände und vor allem die Rehabilitation der aus den Akutstationen entlassenen alten Pa-

,.Allein deshalb kein Ort der Heilung, weil es kein Ort der Hoffnung ist“

tienten neu gestaltet werden könnte. Es gibt Rehabilitationszentren etwa für orthopädische oder Infarktpatienten, die das Akutbett verlassen. Für viele andere alte Patienten, deren Ort die Akutstation nicht mehr ist, die aber noch der Pflege bedürfen, gibt es heute nur das Pflegeheim.

Es ist oft allein deshalb kein Ort der Heilung, weil es kein Ort der Hoffnung ist. Der Patient fühlt sich abgeschoben, und psychische Faktoren sorgen dann für das Eintreten genau der Situation, die er fürchtet.

In Lainz könnten zehn bis elf altersmedizinische Primariate geschaffen und neue Modelle im großen Ubergangsbereich zwischen Akutpflege und Dauerpflege erprobt werden. So zum Beispiel, meint Neumayr, die Tagesklinik für alte Patienten, die tagsüber der Pflege bedürfen, aber die Nacht zu Hause verbringen können, was die nächtliche Schließung ganzer Stationen ermögli-

„Die Tagesklinik für alte Patienten, die die Nacht zu Hause verbringen“

chen würde. Wie immer man das Transportproblem auch löst, die Tagesklinik wäre zumindest bei Gehfähigen sicher nicht nur die humanere, sondern auch die billigere Lösung. Die humanere schon deshalb, weil der Patient nicht brüsk aus seinen gewohnten Lebenszusammenhängen gerissen würde.

Die Schaffung eines Geriatri-kums könnte Lainz von seinem Image als Abschiebeheim befreien, könnte Lainz insgesamt aufwerten, könnte aber auch die Ubergänge zwischen Akut- und Pflegestationen auf Zeit wie auf Dauer fließender werden lassen. Nicht zuletzt wäre hier auch die Berücksichtigung der spezifischen alterspsychologischen Probleme in der Ausbildung wie in der Praxis leichter.

Es ist traurig, daß erst eine Mordserie unsere Gesellschaft für die Probleme Altersmedizin und Altenbetreuung sensibel gemacht hat. Aber diese Sensibilität ist nun plötzlich da. Jetzt muß etwas geschehen, jetzt müssen die notwendigen Reformen geplant, beschlossen und in Angriff genommen werden - ehe alles wieder einschläft.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung