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Gesamtschule mit anderen Mitteln

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Der neue Wiener Schulversuch „Mittelschule” würde doppelt so viele Lehrer brauchen als das Gymnasium, errechnete eine Studienarbeit der SWA.

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Der neue Wiener Schulversuch „Mittelschule” würde doppelt so viele Lehrer brauchen als das Gymnasium, errechnete eine Studienarbeit der SWA.

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Ende Jänner beschloß der Stadtschulrat für Wien - gegen den Protest seiner der ÖVP angehörenden Mitglieder -, einen neuen Schulversuch „Mittelschule” zu beantragen. Im Herbst soll er bereits - an acht Standorten - anlaufen. Angeblich seien, wie erklärt wird, die ersten Klassen bereits ausgebucht, obwohl in der Öffentlichkeit über Einzelheiten und Folgerungen so gut wie nichts bekannt ist.

Eine Studienarbeit der Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft (SWA) stößt nun in diese Lücke hinein. Sie kommt zur Schlußfolgerung, daß der neue Schulversuch ein Teil der alten

Gesamtschulbewegung ist, die damit fortgesetzt werden soll, obwohl die — einstimmig verabschiedete — siebte Novelle zum Schulorganisationsgesetz 1982 ausdrücklich die Schulversuche für die Gesamtschule als beendet und lediglich solche zur Inneren Schulreform — in den bestehenden Schularten — weiter als zuläs-• sig erklärt hatte.

Der Versuch „Mittelschule” beschränkt sich auf die Erprobung eines „neuen Schulmodells für den Bereich der fünften bis achten Schulstufe” (obwohl der Begriff .Mittelschule' auch heute noch im Volksmund für den ganzen Sekundarbereich gilt).

Er soll die Chancengleichheit verbessern, die soziale Integration aller Schüler fördern und einen neuen Lernbegriff einführen.

Hierbei soll das Lernen als „umfassende Denk- und Handlungsfähigkeit” verstanden werden. Das gesellschaftliche Leben soll zum .Ausgangspunkt für Lernprozesse und Qualifizierungen” werden. Das Lernen soll stärker lebens- und schülerbezogen und praxisnäher erfolgen. Der „Aufsplitterung der Wissensinhalte” soll ein zusammenschaubarer Wissenserwerb entgegengehalten werden.

Fächerübergreifend

Im Klartext heißt dies, daß an die Stelle der bisherigen Fächer größere „Lern- und Handlungsfelder” treten sollen oder zum mindesten eine konsequent fächerübergreifende Unterrichtsgestaltung. Verbindliche Lehrerteams (alle Lehrer einer Klasse) sollen thematische Leitlinien entwickeln und Projektformen einplanen. Unterricht und soziale Betreuung sollen in gleichbleibenden Kleingruppen erfolgen, in denen nicht nach der Leistungsfähigkeit der Schüler unterschieden wird.

Soweit die theoretischen Vorstellungen, denen entsprechende personelle Forderungen zugeordnet werden. So sollen nicht mehr als 24 Schüler in einer Klasse zusammengefaßt werden — im Regelschulwesen macht zur Zeit noch die Reduzierung von 36 auf 30 Schüler Schwierigkeiten.

Wo Klassen wenigstens 16 Schüler umfassen, soll ein „Assistenzlehrer” den Bereichslehrer bei der Unterrichtsgestaltung und zur Darbietung fächerübergreifender Aspekte unterstützen.

Soweit die Details, wie sie aus der Projektbeschreibung ersichtlich sind. Sie lassen erkennen, kommentiert die SWA-Studie, daß der Schulversuch „Mittelschule” beträchtlich über die Gesamtschulkonzepte der sechziger und siebziger Jahre hinausgeht.

Die Autoren der Studie befürchten, daß das „lebens- und praxisbezogene Lernen” zum Gegenteil von Selbstbestimmung und Lebensbewältigung führen könnte, wenn der „sozial sinnvolle Zusammenhang” zu eng — von wem eigentlich? — definiert und kurzschlüssig in den Lernprozeß eingebunden werde.

Ferner: die herkömmliche Auffächerung in Unterrichtsgegenstände mag modifikationsbedürftig sein. Sie ist aber eine tragfähige Grundlage für den soliden Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten und sichert ein Mindestmaß an Objektivität in Auswahl und Darbietung des Lehrstoffes. Themen und Projekte als Prinzip und Regelfall bringen dagegen die Gefahr der Oberflächlichkeit und des Halbwissens.

Die entscheidende Rolle des Lehrerteams im neuen Modell dreht die bisher gegebene Vereinzelung des Lehrers in das andere Extrem, in die Unterordnung der Lehrerpersönhchkeit unter ein Kollektiv.

Ein besonderes Problem des neuen Modelles sind die Personalkosten, rechnet die SWA-Studie vor: In der Projektbeschreibung heißt es, sie würden jenen der vergangenen (Gesamtschul-) Versuche entsprechen, bei denen drei Lehrerstunden in den Leistungsgruppen wie fünf gerechnet wurden.

Mit dem Einsatz der Assistenz* lehrer schon bei 16 Schülern und der Höchstzahl von 24 würden 65 Lehrerstunden pro Woche und Klasse nötig, gegenüber 39 Lehrerstunden für 30 Schüler in der 1. Klasse Hauptschule oder 32 Lehrerstunden für 30 Schüler in der ersten Gymnasialklasse. Das ergäbe einen Schnitt von 3,25 Lehrern pro Klasse „Mittelschule” gegenüber 1,95 in der Hauptschule oder 1,6 im Gymnasium oder 7,4 Schüler pro Lehrer in der „Mittelschule” gegenüber 15,4 in der Hauptschule oder 18,8 im Gymnasium.

Zweifel sind angebracht

„Diese Berechnungen zeigen, welch großzügige Dotierungen der Schulversuch .Mittelschule' vorsieht. Man mag sie neidvoll mit den Gegebenheiten im Regelschulwesen vergleichen. Man mag die überaus günstige Lehrer-Schüler-Relation vom Pädagogischen her begrüßen”, schließt die Untersuchung ihre Betrachtungen ab. „Man muß aber auf jeden Fall Zweifel an der Finanzierbarkeit eines solchen Konzeptes auf breitester Grundlage, also an der Möglichkeit einer allgemeinen Verwirklichung, anmelden.

Bei geringerem Personalaufwand, bei Spar- und Standardbedingungen also, ist zu befürchten, daß die positiven Ansätze des Modells gar nicht mehr zum Tragen kommen und die Gefahren und Negativa vollends durchschlagen.”

SCHULVERSUCH ..MITTELSCHULE” -Gesamtschule mit anderen Mitteln? Studienarbeit der Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft (Johannesg. 4/1, 1010 Wien), 1985.

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