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Gesamtschule Weg zu sozialer Gerechtigkeit?

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Geht man von der Erkenntnis aus, daß die heutige Industriegesellschaft im Begriffe steht, sich in eine Bildungsgesellschaft zu wandeln, und daß der wechselseitige Einfluß“ von Schule und Gesellschaft eines der bedeutendsten Kriterien für die Gestaltung des menschlichen Lebens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts darstellt, so muß die Diskussion um das zukünftige Schulsystem für jeden, der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und insbesondere gegenüber der Jugend empfindet, ein ernstes Anliegen sein.

Auf einer Enquete des Mittelschülerkartellverbandes zum Thema „Gesamtschule- Gefahr oder Notwendigkeit“ war man übereinstimmend der Meinung, daß das traditionelle Schulsystem reformbedürftig sei, und zwar im besonderen hinsichtlich sozialer Integration, sozialer Gerechtigkeit (Chancengleichheit), hinsichtlich des Abbaues der noch immer im Steigen begriffenen Schulangst sowie der Durchlässigkeit der Bildungswege.

Wie nun diese humanitären Forderungen ohne Einbuße bereits errungener demokratischer, pluralistischer Werte zu erfüllen wären, war Gegenstand der Diskussion.

Die sozialistische Bewegung sieht schon seit Jahrzehnten im Modell der Gesamtschule die einzig mögliche Organisationsform zur Erreichung der beschriebenen Ziele: Infolge Vermischung sämtlicher sozialer Schichten hofft man, daß die Jugend Verständnis für Andersdenkende entwickelt, Vorurteile abbaut und neues konfliktfreies Verhalten erlernt. Die Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit werde durch das einheitliche Bildungsangebot der Gesamtschule verwirklicht. Ihre innere Struktur in Form von drei Leistungsgruppen, zwischen denen man jederzeit je nach momentaner Leistungsfä-

higkeit auf- oder absteigen kann, gewährleistet ein breites Angebot für alle Begabungsgrade, wobei insbesondere für die Begabungsschwächsten Förderungskurse installiert sind, um eben erb- oder milieubedingte Schwächen bestmöglich auszugleichen.

Auf Grund der in Deutschland und Österreich laufenden Schulversuche, wurde festgestellt, daß die schwächsten Schüler in der dritten Leistungsgruppe der Gesamtschule büdungs- mäßig wohl leistungsfähiger seien als vergleichsweise die B-Zügler der Hauptschule. Die Schüler der AHS

und des A-Zuges der Hauptschule bleiben auch in der Gesamtschule auf die ersten beiden Leistungsgruppen verteilt. Zugleich mit dieser Erkenntnis aber müsse man der Tatsache ins Auge sehen, daß bei Schülern aus der letzten Leistungsgruppe der Gesamtschule Frustrationserscheinungen infolge der permanenten Konfrontation mit Schülern aus besseren Leistungsgruppen weitaus häufiger seien als bei dem in AHS und Hauptschule getrennten System.

Die Gesamtschulversuche haben gezeigt, daß sich Freundschaften vorwiegend innerhalb sozial ähnlicher Schichten bilden: Eliten werden also nicht abgebaut, sie treten infolge der sozialen Vermischung in der Gesamtschule vielleicht sogar noch stärker ins Bewußtsein der Schüler.

Univ.-Prof. Dr. Marian Heitger sieht in der Gesamtschule ein Instrument für gesellschaftspolitische Interessen und bedauert die Tatsache, daß „sich die Schule darauf eingelassen und

tellt hat, die von dieser Gesellschaft verlangten Qualifikationen zu besorgen“. Er sprach wider die Theorie der Machbarkeit des Menschen, den Mißbrauch der Pädagogik und die reibungslose Lenkbarkeit des Menschen. Er bezweifelt, ob in der Form des Gesamtschulsystems überhaupt noch der pädagogische Auftrag der Schule zu erfüllen sei, nämlich die umfassende, individuelle Gesamtbildung des Menschen. In der Unüberschaubarkeit des Mammutgebildes einer Gesamtschule stecke die Gefahr der Kon- taktlosigkeit, der Ausschaltung

r Teilnahme am schulischen Geschehen sowie des Verlustes der individuellen Betreuung des Schülers durch den Lehrer.

Den historischen Aspekt und die Entstehungsgeschichte des Problembereiches Gesamtschule erläuterte Univ.-Prof. Dr. Josef Hitpaß, Köln, in seinem Referat „Gesamtschulentwicklung in der BRD - Anspruch und Wirklichkeit“: Entstand die Forderung nach der Gesamtschule infolge des sogenannten „Sputnikschocks“, des plötzlichen Erkennens des technologischen Zurückbleibens Europas, aus dem gesellschaftlichen Bedürfnis, alle Begabungsreserven in der Bevölkerung auszuschöpfen, so verlagerte sich in der Folge die Diskussion auf gesellschaftspolitische und humanitäre Forderungen.

Der Bedarf an Bildungspotential wurde in der Zwischenzeit hinreichend ausgeschöpft, ja mehr noch, man ist in der BRD gezwungen, zum Instrument Numerus clausus zu g

, um die Verteilung der Studienplätze auf „gerechte“ Weise zu reglementieren. Viele Akademiker müssen einer Beschäftigung unter ihrem Bildungsniveau nachgehen oder erhalten keinen Arbeitsplatz. Es ergibt sich also gegenwärtig die groteske Situation, daß infolge der Befriedigung des ursprünglichen Bedürfnisses nach höherem Bildungsangebot eine Akademikerschwemme entstanden ist, die wiederum zu Ungerechtigkeit und Enttäuschung führt.

Prof. Hitpaß ist der Überzeugung, daß die Entscheidung für oder gegen Gesamtschule eher auf Grund einer politischen Willensbildung fallen werde uhd das ferne Ziel die Einheitsschule für alle sei. Er forderte die Beibehaltung des gegenwärtigen, partiell zu reformierenden Schulsystems in Verbindung mit einer Erweiterung des Schulspektrums durch angemessene Formen der Gesamtschule.

Immer stärker kristallisieren sich die beiden Hauptmotive der Gesamtschulbefürworter heraus, nämlich soziale Integration und Bildungsgerechtigkeit. Beides legitime Anliegen, die es güt zu verwirklichen. Allerdings scheint das Modell der Gesamtschule die Verwirklichung der sozialen Forderungen eher zu verhindern, wenn man von einem eventuellen Leistungsanstieg der Allerschwächsten absieht. Man wird daher eine differenzierte Organisationsreform entwickeln müssen, die einerseits die sozialen Anliegen weitestgehend erfüllt, neue sozial-psychologische Schwierigkeiten umgeht und anderseits die Partnerschaft von Eltern, Lehrern und Schülern fordert, anstatt durch Einführung einer Einheitsschule die individuellen Entscheidungsmöglichkeiten der Eltern weiter einzuschränken.

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