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Geschichte ohne Moral

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Sonntag, drei Uhr nachmittags, sagte der Gymnasiast Leopold, jetzt müsse er fort, denn der Auto­bus zum Fußballmatch fahre Punkt drei Uhr fünfzehn von seinem Standplatz ab.

„Und deine Schularbeiten für morgen?" fragte die Mutter. „Die mache ich am Abend." Tante Alwine meinte, es sei schade ums Geld für die Autofahrt, so ein junger Mann könne auch zu Fuß gehen.

Es wurde Abend, und Leopold war noch nicht zu Hause. Und dann kam die Nachricht, daß der fahr­planmäßig um drei Uhr fünfzehn von seinem Standplatz abgegange­ne Autobus in einen Graben ge­stürzt und sämtliche Insassen schwer verletzt seien.

Die Mutter, aus der Ohnmacht erwacht, klagte sich immerzu an, sie hätte Leopold nie und nimmer erlauben dürfen, seine Schularbei­ten erst am Abend zu machen. Jetzt büße sie für ihre elterliche Schwä­che. Der Vater verfluchte das Fuß­ballspiel und den Götzen Sport überhaupt.

Tante Alwine schrie: „Hätte er nicht zu Fuß gehen können wie tausend andere Jungen?"

Ihr Mann schüttelte bedeutsam den Kopf: „Heute ist der dritte August, der Sterbetag unseres seli­gen Großvaters. Daran hätte man denken müssen."

Die Großmutter mütterlicherseits sprach zu sich selbst: „Kürzlich bin ich ihm auf eine Lüge gekommen. Ich ermahnte ihn: ,Wer lügt, sün­digt, und wer sündigt, wird be­straft.' Da hat er mir ins Gesicht gelacht!"

Das Mädchen für alles sagte dem Kohlenmann: „Na, sehen Sie? Wie ich Ihnen erzählt habe, daß mir heute früh zwei Nonnen begegnet sind, da haben Sie sich über mich lustig gemacht!"

Hernach ging das Mädchen für alles hinunter zu den Portiersleuten, um mit ihnen den traurigen Fall zu bereden. „Ja", sagte sie, „am Ersten wollten sie aufs Land fahren. Aber weil die Schneiderin mit den Kleidern der Gnädigen nicht fertig war, sind sie noch dage­blieben. Wegen der dummen Fet­zen."

Die Portiersfrau meinte: „Am Sonntag sollen Kinder und Eltern zusammenbleiben... Aber bei den besseren Leuten gibt's ja kein Familienleben mehr."

Emma, das eine der beiden Fräu­lein vom Konditor im Nebenhaus, machte sich bittere Vorwürfe we­gen ihrer Prüderie. Hätte sie dem armen jungen Mann nicht nein gesagt, dann wäre er heute nach­mittag mit ihr gewesen und nicht beim Fußball.

Bobby, der Dobermann, dachte:

„Gestern hat er mir einen Tritt gegeben. In der ersten Wut wollte ich ihn ins Bein beißen. Leider, lei­der habe ich es nicht getan. Sonst wäre es ihm heute kaum möglich gewesen, zum Fußballmatch zu gehen."

Spätabends kam, vergnügt, Leo­pold nach Hause. Das mit dem Fußballmatch hatte er nur vorge­schwindelt. In Wirklichkeit war er mit Rosa, dem anderen Fräulein vom Konditor nebenan, auf einer Landpartie gewesen, die, schien es. einen zufriedenstellenden Verlauf genommen hatte.

Die Mutter umarmte ihren Sohn in hemmungsloser Rührung. Der Vater gab ihm ein paar Ohrfeigen.

Aus: DAS HEITERE BUCH DER LIEBE.Hrsg. von Klaus Waller. Wilhelm Heyne Verlag, Mün­chen 1990. 382 Seiten, öS 68,64.

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