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Geschichten zur „Wende"

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Der Vorschlag kam Mitte Dezem- ber 1989 von Peter Abraham; eine Anthologie: Kinder- und Jugend- buchautoren aus der DDR erzäh- len, wie Kinder und Jugendliche den Umbruch, die „Wende" in ih- rem Land erlebt haben. Da gab es nicht viel zu überlegen. Ein Jugend- buch zur Wende, darüber hatten wir in Ravensburg auch schon nach- gedacht, nur alle Ideen bald wieder verworfen; so ein Buch mußte aus der DDR kommen.

Mitte Januar steht, bis auf weni- ge Unentschiedene, der Kreis der Autoren fest. Um zwanzig Autoren werden es am Ende sein, macht zwanzig Geschichten. Das sind eher zuviel als zuwenig. Wir im Lektorat fragen uns zu dem Zeitpunkt nur, wie die Schreibenden das Problem der ständig, mitunter stündlich sich verändernden Verhältnisse in der DDR lösen; es müssen sich denen doch immer wieder die Erzählper- spektiven verschieben. Wir werden sehen.

Der 31. März ist als letzter Abga- betermin vereinbart, um den 20. haben wir gut zwei Drittel derTexte. In Ravensburg lesen wir zu dreien - und wissen nicht, was wir dazu sagen sollen. Ein erster Verständi- gungsversuch ergibt: Es ist der pessimistische Grundton, den aus- nahmslos alle Autoren anschlagen. Hatten wir Optimistisches erwar- tet? Doch eigentlich nicht; die November-Euphorie ist auch für uns schon kaum noch wahr. Warum stört, ja verstört uns der Pessimis- mus der DDR-Autoren dann so? Wir müssen noch einmal, und gründli- cher, lesen: Wovon erzählen sie? Wie erzählen sie?

Drei Hauptmotive sind auszuma- chen: die Trennung - Freundschaf- ten, erste Lieben zerbrechen, weil die einen Eltern „wegmachen", die anderen bleiben, und „Kinder wer- den nicht gefragt"; der neunte November und die Tage danach - erste Begegnungen mit dem We- sten, „wie er wirklich ist"; und immer wieder: die Stasi - der Stasi- Vater, der erklären, sich rechtferti- gen muß, der Sohn, die Tochter als Opfer von Sippenhaft. Motive, die man erwarten konnte.

Zu erwarten war auch, daß li- near, daß einfach erzählt werden würde; die Zeitvorgabe ließ Expe- rimente kaum zu. Zwei Routiniers nur scheren aus: Gunter Preuß schickt einen (glänzenden) Dialog zwischen Gespenstern, Günter Saalmann läßt Internatsjungen unter der Dusche (!) die Zeitläufte bekakeln. Highlights des Buches. Sonst wird einfach erzählt; und dennoch fällt uns oft der Einstieg in die Geschichten schwer. Beim er- sten Lesen hatten wir das nicht gerade übersehen, aber doch das Problem eher bei uns und unserer berufsnotorischen Tendenz zum Schnellesen gesucht.

Beim Wiederlesen merken wir, es liegt an den Texten: Neun von zehn geben ihr Thema und ihre Zielrich- tung nur vorsichtig, eher zwischen als auf den Zeilen preis. Zufall oder Schreibgewohnheiten, die man so schnell nicht ablegt? Wir vermuten, daß letzteres. Wie sonst wäre, bei- spielsweise zu erklären, daß in den fünfzehn Geschichten, die wir ha- ben, nicht ein DDR-Politiker beim Namen genannt wird? Ironische Verfremdungen („der große Vorsit- zende"), meist Jugendlichen in den Mund gelegt, zuhauf - aber keine Namen. Zufall?

Wir stellen uns den ein oder an- deren „unserer" Autoren bei einem vergleichbaren Thema vor - müß- ten wir nicht Beleidigungsklagen fürchten? Gewiß. Die Frage ist nur, ob wir so fragen dürfen, oder an- ders: ob es einen Sinn hat, so zu fragen. Die Diskussion darüber bringt uns den Ursachen unseres anfänglichen Unbehagens auf die Spur. Was uns nicht paßt, ist, kurz gesagt: daß die nicht so abrechnen, wie wir es von ihnen erwarten, abrechnen mit ihrem Staat, ihren Politikern, ihrer ganzen Vergangen- heit - und nicht zuletzt mit sich selbst. Ist das aber nicht ganz allein ihre Sache?

Die Auswahl der Texte ist kein Problem; nur zwei von zweiund- zwanzig Geschichten mustern wir aus: die eine einstimmig aus Quali- tätsgründen (ihr Thema ist zudem mehrfach besetzt); bei der zweiten sind wir Ravensburger strenger als vor allem Peter Abraham: Ihr Au- tor beschreibt, wie eine zunächst friedliche Demonstration umkippt in einen Sturm auf das nahe Stasi- Gebäude. Antreiber und Einpeit- scher ist dabei ein Mann mit einem Megaphon. „Keine Gewalt!" schreit er - und bringt damit, so der Autor, die Demonstranten allererst auf die Idee, „hier könnte auch Gewalt gegeben sein". Soll hier tatsächlich die Friedensparole schlechthin denunziert werden?

Schon beim Lesen wußten wir: ein Lektorat im üblichen Sinne kann es bei dem Buch nicht geben. Wir beschränken uns also auf Ein- griffe kosmetischer Art, vereinheit- lichen Schreibweisen, ersetzen das eine oder andere DDR-Wort, das bei uns nicht verstanden würde, und sind überrascht, wie wenig das doch sind.

Und alles in allem? - Ein gutes, ein wichtiges Buch, vor allem: ein Dokument ersten Ranges: Nicht, daß wir mit allem glücklich wären: Das Grau in Grau nervt auch noch, wenn man die freie Wahl der Far- ben als Autorenrecht betrachtet. Der Westen oder „Wessis" drüben scheinen uns gar zu prototypisch abgeschildert, mitunter verschwim- men schon die Grenzen zur Karika- tur: West-Berlin allein als Hort von Punkern, Fixern, Pennern und schwulen Mercedesfahrern, nun ja.

Dann das Bekennerhafte, die umstandslose Bereitschaft, bei al- lem Pessimismus, was die Zukunft angeht, das Vergangene als das abgrundtief Schlechte darzustellen - ist das alles „echt"? Wahrschein- lich nicht. Ein Wunder, gäbe es nicht auch unter Autoren „Wendehälse". Aber können wir im Westen, sagen wir, Einsicht von Opportunismus unterscheiden? Wohl kaum. Und das Buch selber wird im Osten nicht nur gelesen, es wird, wie wir inzwi- schen wissen, dort auch „ganz nor- mal" verkauft werden. Das Publi- kum dort wird „seinen" Autoren schon die entsprechenden Fragen stellen.

WAHNSINN! - GESCHICHTEN VOM UMBRUCH IN DER DDR. Herausgegeben von Peter Abraham und Margarete Gorschenek. Ravensburger Buchverlag 1990.304 Seiten, kart., öS 155,-.

Gekürzt aus „1000 und 1 Buch", Zeitschrift für Kinder- und Jugendliteratur".

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