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Geschichtsbild ohne Fälschung

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Engelbert Dollfuß erscheint in der Sicht von unterschiedlichen politischen Standpunkten gemäß der Tripolarisierung der österreichischen Politik. Seine Schlüsselrolle vom Mai 1932 bis zu seiner Ermordung am 25. Juli 1934 erscheint daher in unterschiedlichen Geschichtsbildern.

Diese sind jedoch bei Vermeidung von Geschichtsfälschungen miteinander vereinbar. Geschichtsfälschungen sind jedoch beliebt, weil sie klare und einfache Geschichtsbilder vermitteln. Als alter Sozialdemokrat widerspricht der Autor dieser Abhandlung vor allem den Geschichtsfälschungen, welche in allen drei Lagern unsere notwendigerweise unvollkommene Demokratie zugunsten von vollkommenen, ideologisch fundierten Traumvorstellungen abwerten.

Als Dollfuß im Mai 1932 Bundeskanzler wurde, war Österreichs parlamentarische Demokratie bereits in einer Sackgasse. Bei Wahlen in Wien, Niederösterreich, Salzburg, Kärnten und Steiermark am 24. April 1932 hatte Hitlers Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ein Fünftel aller Wählerstimmen erhalten. Daraufhin hatte Otto Bauer im Namen der Sozialdemokratie Neuwahlen gefordert.

In einem neugewählten Parlament wäre eine Mehrheitsbildung nur mittels einer Koalition von Christlichsozialen und Nationalsozialisten möglich gewesen. Die Christlichsozialen zogen eine Koalition mit den Heimwehren vor, deren Wähler zwar offensichtlich zu Hitlers Partei übergegangen waren, deren Stimmen im Parlament jedoch weiterhin zählten. Daraufhin überstand die Regierung Dollfuß etliche kritische Parlamentsabstimmungen mit einer einzigen Stimme Mehrheit.

Entscheidend für die Ausschaltung des Parlaments war jedoch nicht die komödienhafte Parlamentssitzung am 4. März 1933, sondern der Umsturz in Deutschland. Folglich wurde Österreichs Politik im Jahr 1933 vom Konflikt zwischen Hitler und Dollfuß geprägt. Dabei ist es das historische Verdienst von Dollfuß, daß Hitlers Partei nicht bereits im Jahr 1933 in Österreich an die Macht gekommen ist.

Als Dollfuß nämlich die von Hitlers Beauftragten Theo Habicht übermittelten Bedingungen ablehnte, setzten Hitlers Getreue in Österreich auf Destabilisie-rung mittels nihilistischer Terrorakte. Um die destabilisierende Wirkung der Terrorakte zu verstärken, sperrte die Reichsregierung durch eine „Tausend-Mark-Sperre" Österreichs Grenze für deutsche Urlauber.

Dollfuß war jedoch nicht bereit, für den Preis einer guten Fremdenverkehrssaison nachzugeben, und trat dem Terror mit harten Maßnahmen entgegen. Als Terroristen auf langjährige Gefängnisstrafen mit einem fröhlichen „Haha, regierungslänglich" antworteten, wurde für Terrorakte die Todesstrafe eingeführt. Der Terror nahm jäh ab.

^Manche „linken" Historiker schließen aus den Verhandlungen von Dollfuß mit den Nationalsozialisten auf seinen Versöhnungswillen und Nachgiebigkeit gegenüber Hitler. Sie übersehen dabei, daß diese Verhandlungen gescheitert sind. Es geht ihnen nämlich vor allem um eine Bestätigung vulgärmarxistischer Klassenkampftheorien.

Sonderbarerweise präsentieren manche „nationale" Historiker den Bundeskanzler Dollfuß gleichfalls als kompromißbereit und schieben die Verantwortung für das Scheitern der Verhandlungen, die kriminellen Terrorakte und den Putschversuch vom 25. Juli 1934 der Eigenwilligkeit von Hitlers Bevollmächtigten Theo Habicht zu.

Der verhängnisvolle Irrtum von Dollfuß beruhte auf der Illusion, daß die familiären Beziehungen am Bauernhof der Industrie als Modell dienen könnten. Dies wiederum führte zu einer Fehleinschätzung der Sozialdemokratie, ihrer tiefen Verwurzelung in der Arbeiterschaft und ihres Kampfwillens. Dabei ignorierte Dollfuß zahlreiche Warner in der eigenen Partei, unter ihnen den christlichen Arbeiterführer Leopold Kunschak.

Die innen- und vor allem die außenpolitische Situation haben damals der Regierung Dollfuß nur einen geringen Spielraum gewährt. Dollfuß ignorierte jedoch auch den in dieser Hinsicht vorhandenen Spielraum im Banne der Traumvorstellung eines harmonischen Ständestaates, den es im Mittelalter gegeben haben soll.

Ein Rumpfparlament von fragwürdiger Beschlußfähigkeit ratifizierte am 30. April 1934 die Verfassung des Ständestaates, in der ein kompliziertes Wirrwarr von gesetzgebenden und beratenden Körperschaften vorgesehen war. Die in der Präambel enthaltene Berufung auf göttliche Autorität hat dabei eher den religiösen Glauben kompromittiert als die Regierungsautorität und ihre Verfassung legitimiert.

Das umso mehr, als die bereits seit März 1933 autoritäre Regierung Dollfuß im Jänner 1934 und wiederum im Februar 1934 durch Todesurteile kompromittiert wurde, deren Exekutierung von vielen als „Justizmorde" betrachtet worden sind.

Die erfolgreiche Abschreckung von nationalsozialistischer) Terroristen durch die bloße Einführung der Todesstrafe hatte offenbar die Regierung bewogen, die Sozialdemokraten mittels eines Exempels einzuschüchtern. Folglich wurde ein Landstreicher wegen Brandlegung an einem Heustadl von einem Standgericht zum Tode verurteilt und am 11. Jänner 1934 gehenkt. Das offensichtliche Unrecht dieser Hinrichtung wirkte jedoch nicht abschreckend, sondern empörend und trug zur verzweifelten Kampfstimmung der bedrängten Sozialdemokraten bei.

Vier Wochen später, am verhängnisvollen 12. Februar, sahen sich die Sozialdemokraten vor die Wahl gestellt, ihre Partei kampflos untergehen zu lassen oder einen zwar völlig aussichtslosen, aber umso demonstrativeren Widerstand zu leisten. Aber nur eine kleine Minderheit des bereits im März 1933 verbotenen Republikanischen Schutzbundes, der Wehrformation der Sozialdemokratie, bediente sich aus eigener Initiative der wenigen ihnen zugänglichen Waffen. Sie wußten, daß ihr Widerstand aussichtlos war.

Neun der kämpfenden Schutzbündler wurden gemäß den Bestimmungen des Standrechts zum Tode verurteilt und gehenkt. Wie im Falle des oben erwähnten Landstreichers hatte Justizminister Kurt Schuschnigg keine Begnadigung vorgeschlagen. Als Nachfolger von Bundeskanzler Dollfuß mußte Schuschnigg diese Unterlassungen bereuen, denn alle seine Versöhnungsversuche scheiterten im Schatten der Galgen.

Wir können aus der Geschichte am ehesten lernen, wenn wir uns bemühen, die Leistungen und Fehlleistungen von Bundeskanzler Dollfuß und seinen Zeitgenossen auf der Grundlage ihrer Motive im Rahmen der Gegebenheiten ihrer Umwelt zu prüfen und soweit wie möglich zu verstehen. Vielleicht könnte dieses Verständnis bei der Bewältigung von künftigen Krisensituationen der Orientierung dienen.

Der Autor ist em. Universitätsprofessor für Soziologie.

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