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Geschichtsstunde

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Frühling in Berlin: 8. Mai 1990, ein Dienstag - nicht wie jeder ande- re. Hinter der Neuen Wache in Ost- Berlin - dem Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus - liegt das Maxim-Gorki-Theater. Auf dem Platz davor spielt eine polnische Militärkapelle Glenn Mil- lers „ In the mood ". Ein lauer Abend- wind streift durch die Lindenbäu- me, die den Blick auf das Theater verwehren. Dort wird an diesem

denkwürdigen Tag George Taboris „Mein Kampf" unter der Regie von Thomas Langhoff aufgeführt.

„Immer spielt ihr und scherzt? ihr müßt! o Freunde! mir geht dies in die Seele, denn dies müssen Ver- zweifelte nur."

Tabori hat diesen Hölderlin- Spruch seinem Stück vorangestellt - Langhoff läßt seine Inszenierung damit beginnen. Die Premiere, ur- sprünglich für den Herbst 1990 geplant, wurde nach den politischen Veränderungen in der DDR vorge- zogen und trat an Stelle der „Ritter der Tafelrunde" des DDR-Autors Christoph Hein. Die Ritter waren nämlich plötzlich thematisch über- holt.

Währenddessen ermöglichte „Mein Kampf" dem DDR-Theater, mit der Vergangenheit neu umzu- gehen. Denn bislang war das Wis- sen über Hitlers Propaganda ver- boten. Nun kommt sie durch Tabo- ris Stück erstmals sehr ausführlich zu Wort. Langhoff läßt den Hitler im Wiener Männerasyl so sprechen

und gestikulieren, wie wir den „Großen Diktator" aus Wochen- schau und Rundfunkreden kennen. Außerdem sind Ähnlichkeiten mit Chaplins „Hynkel" nicht zufällig.

„Mein Kampf" ist die einzige DDR-Aufführung, die zum 27. Theatertreffen Berlin eingeladen wurde. Sonst reagierte die Jury nicht auf die politische Arbeit der DDR-Theater, obwohl ja gerade Theaterleute den Veränderungspro- zeß in vorderster Linie in Gang gebracht hatten. Die Jury betont indes, daß sie nach künstlerischen Aspekten auswähle. Diese bleiben allerdings denen, die die nicht-öf- fentlichen Auswahldiskussionen nichtmiterleben, zumeist undurch- sichtig.

So vor allem bei Ibsens „Frau vom Meer", die (wiederum) Lang- hoff an den Münchner Kammer- spielen realisierte, und die im Rah- men des Theatertreffens im Ost- Berliner Deutschen Theater aufge- führt wurde. Dieser Gastspielort war ein absolutes Novum und zu- gleich das einzig „Bemerkenswer- te" - das ist das offizielle Auswahl- kriterium für die Jury - an dieser brav-gewöhnlichen Aufführung.

Für Stimmung sorgte Frank Cas- torf mit seinen Assoziationen und Minimalismen der Lessing'schen „Miss Sara Sampson" in einer Aufführung des Bayerischen Staatsschauspiels. Castorf, der durch die DDR-Künstleragentur nach München vermittelt wurde, hat sich dort als inszenierendes Enfant terrible entpuppt. Seine „Miss" erhitzt nicht nur die bayeri- schen Theatergemüter, sie spaltete auch das selig-satte Theatertref-

fen-Publikum in begeisterte Bra- vo- und Buh-Ruf er.

Einhellige Zustimmung hingegen erntete Johann Kresnik mit seinem Bremer Tanztheater und dem Stück „Ulrike Meinhof". Denn die Bio- graphie einer Terroristin war zu glatt inszeniert, als daß dieses heik- le Thema echte Betroffenheit oder tiefe Verunsicherung hervorgeru- fen hätte.

Neben dem Trend, daß sich das non-verbale Tanztheater im tradi- tionellen Sprechtheater eine gleich- wertige Rolle erspielt, dokumen- tierte das Theatertreffen heuer auch, daß die Frauen das Regiefach erobern. Katharina Thalbach trägt mit ihrer Inszenierung von Bertolt Brechts „Mann ist Mann" dem Untertitel „Lustspiel" des Stücks Rechnung, indem sie unbekümmert frisch, commedia dell' arte-grotesk am Thalia-Theater Hamburg den lehrhaften Touch von Brecht ge- nommen hat. Schwerer im Magen liegt in der Inszenierung von An- drea Breth Maxim Gorkis „Die Letzten", die das Schauspielhaus Bochum nur einigermaßen verdau- lich in der Dauer von vier Stunden servierte.

Das „bemerkenswerteste" deutschsprachige Theater aller- dings scheint nach Meinung der Jury derzeit in Wien über die Bühne zu gehen: Gleich drei Inszenierungen wählte sie aus, die zugleich tech- nisch so anspruchsvoll und kom- pliziert sind, daß nur Achim Fre- yers „Woyzeck"-Inszenierung in Berlin präsentiert werden konnte. Da „Das Spiel vom Fragen" (in der Regie von Claus Peymann) und „Othello" (in der Regie von George

Tabori) fehlten, konnte dieses Ur- teil kaum vollständig überprüft werden.

Im Rahmenprogramm des Thea- tertreffens wurde politisch ergänzt, was die Jury nicht berücksichtigt hatte. In zwei Ausstellungen waren die Arbeiten von DDR-Bühnenbild- nern sowie DDR-Theaterplakate zu sehen. In zwei Kolloquien wurden die Perspektiven des Theaters im deutschen und europäischen Eini- gungsprozeß sowie die Chancen und Gefährdungen des Theaters in der DDR diskutiert.

„So haltet die Freude recht fest" ist der Titel eines noch 1989 von der Staatssicherheit als subversiv ein- gestuften Liederabends des Meck- lenburgischen Staatstheaters

Schwerin. Im ersten Teil stürmt die Freie Deutsche Jugend mit propa- gandistischen Liedern der fünfzi- ger Jahre Berlin, im zweiten Teil rufen alte deutsche Volkslieder zum Widerstand auf. Diese Geschichts- stunde sollte zusammen mit Ulrich Mühes Lesung der „Schwierigkei- ten mit der Wahrheit" von Walter Janka nicht nur auf dem Theater- treffen, sondern auch im Deutschen Bundestag ihren Platz haben. Nicht nur DDR-Bürger müssen heute bundesdeutsche Geschichte nach- lernen, auch die Bundesdeutschen müssen DDR-Geschichte nacher- leben. Allein dadurch können die beiden deutschen Staaten über die Kultur hinaus wieder zusammen- wachsen.

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