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Gesellschaftsänderung durch Sport?

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Eine Kapitalismuskritik am Sport, wie sportbasierte Unterdrückung zu beheben ist und wo die Kritik ihre Grenzen hat.

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Eine Kapitalismuskritik am Sport, wie sportbasierte Unterdrückung zu beheben ist und wo die Kritik ihre Grenzen hat.

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Zuerst gab es die Sozialkritik der verschiedenen neomarxistischen Schulen und Kreise — zum Beispiel der Frankfurter Schule — am Kapitalismus. Nicht, daß diese Leute in erster Linie vom Sport und der Sportwissenschaft gekommen wären. Relativ spät haben sie ihre allgemeinen kritischen Theorien auf den Sport angewandt, oder für den Neomarxismus begeisterte Sportstudenten haben ihr theoretisches Betätigungsfeld eben auch im Sport gefunden. Einfacher, noch schematischer, ist die Sozialkritik der etablierten Marxisten im System der kommunistischen Staaten: im Kapitalismus wird dęr Mensch ausgebeutet, daher ist dort Sport Ausbeutung; im Sozialismus herrscht der; Fortschritt, das Volk hat alles in seiner Hand, daher ist der Sport im Sozialismus gut und für alles brauchbar; die Sozialisten stellen auch die besseren und erfolgreicheren; Sportler.

Bei uns ist die neomarxistische Sportkritik in gewissen Kreisen beliebt, und sie hat durchaus im einzelnen oft gar nicht so unrecht, darum wollen wir uns vor allem mit ihr auseinandersetzen. Wichtig ist, daß sie als Marxismus auch auf dem einfachen Entwicklungsschema der Gesellschaft nach dem dialektischen und historischen Materialismus aufbaut: danach befindet sich die westlich-demokratische Gesellschaft im Stadium des Spätkapitalismus, eine Gesellschaftsanalyse enthüllt die Klassenstruktur dieser Gesellschaft. In ihrer „Scheindemokratie“ herrschen die großen Finanz- und Kapitalmächte, die „unterdrückte Klasse“ erfreut sich gewisser Scheinfreiheiten und wird durch Konsum und dosiertem Wohlstand eingeschläfert. Dahinter aber stehen die Repressionsmechanismen. Auch der Sport wird zur Unterdrückung benützt, um die Menschen abzulenken und zufrieden zu halten. Die bürgerliche Sportideologie und -Wissenschaft, die von einem zweckfreien Sport redet, unkritisch und unpolitisch ist, wirkt in diesem System spätkapitalistischer Ausbeutung stabilisierend.

Ein Ausdruck dieser Repression auch mittels des Sports ist die Übernahme des kapitalistischen Leistungsprinzips in den (Hoch-)Leistungssport und von dort herab bis zu Schülermeisterschaften. Ebenso ist das Profitstreben in den Berufssport übernommen und die Profitsportvereine sind, Industrieunternehmen gleich, tätig in der Indienstnahme und Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft. Der Leistungssportler als Prototyp des Sportlers im Kapitalismus ist ein unmündiges Manipulationsobjekt, entfremdet und fremder Herrschaft unterworfen. So werden die allgemeinen Begriffe der Kapitalismuskritik auch in den Sport eingeführt, auch hier herrschen Entfremdung und Manipulation.

Die Entfremdung ist dreifach: von sich selbst, von anderen, von seinem Produkt. Als Beispiel und Beweis dient dabei das Training, in dem ein Athlet ganz dem Trainer unterworfen wird, um eine Leistung für die Interessen anderer zu erbringen, für die er vielleicht auch motiviert wird und an deren Früchten er auch etwas Anteil nehmen darf. So wird der Sportler zur kritiklosen Anpassung an die Gesellschaft erzogen mittels Erfolgsversprechungen und dosierter Belohnungen. Im übrigen untersteht er völlig der autoritären Herrschaft der Trainer, der Normen des Wettkampfes und des Dirigismus der Verbände. Finanziell ist er von Förderinstitutionen abhängig. Die öffentliche Meinung und die Sportjournalistik terrorisiert ihn mit ihren Erfolgserwartungen. Schon im frühkindlichen Alter sind es Eltern und Lehrer, die über ihn auch im Sport bestimmen und keine selbständig kritische Haltung aufkommen lassen. Starke Einseitigkeit in der Bildung führt dazu, daß der Athlet sich selbst gar nicht „ausdrücken“ kann, er „sprachlos“ ist und vorfabrizierte Sprechstereotypen übernimmt, wie man es von ihm »in der Öffentlichkeit erwartet. Diese Art von Sport nützt in Wirklichkeit gar nicht der Gesundheit. Auch der Freizeit- und Breitensport steht unter dem Diktat der Leistungsinteressen des Leistungssports und kann nicht die eigene Entwicklung nehmen, die er brauchte. Große Sportveranstaltungen sind zweifellos in erster Linie von politischen Interessen beherrscht (Olympische Spiele). Oft steht der Sport auch im Dienst militärpolitischer Interessen, nämlich der vormilitärischen Ausbildung.

Dementgegen hilft keine sport-immanente Veränderung, sondern nur die radikale Umwälzung der gesamten Gesellschaft des Kapitalismus von der Basis der wirtschaftlich-ökonomischen Verhältnisse her. Abschaffung des Leistungsprinzips und »des privaten Profits zuerst in der Wirtschaft. Die Strategie, um zur sozialistischen und fundamentaldemokratischen freien Gesellschaft zu gelangen, bedarf aber zahlreicher bewußtseinsverändernder Aktionen und Vorgänge, bis einmal eine neue Qualität gesellschaftlichen Lebens in einem revolutionären Schritt eintritt. In dieser Gesamtstrategie hat auch die Aktion im Sport ihren Platz. Dieser Prozeß der Emanzipation und Befreiung von den Zwängen des kapitalistischen Systems bedeutet im Sport besonders, daß der Sport nicht mehr einer Minderheit von Leistungssportlern mit deren Privilegien im Interesse der Herrschaftsklasse Vorbehalten ist, sondern für alle tatsächlich offen ist; daß alle Unterdrückungsmechanismen und deren »gesellschaftliche Ursachen demaskiert werden. Ein besonderes Gebiet ist die sexuelle Emanzipation und die Emanzipation der Frauen auch im Sport. Sonst bleibt Sport, statt zu einer Chance menschlicher Befreiung und Freiheit zu werden, ein Feld neuer menschlicher Erniedrigung und Unterdrückung wie es Jürgen Habermas formuliert, der Sport wird zu einer Verdoppelung der Arbeitswelt, das Training nach anderen zu einer „Fließband“-Arbeit.

Diese Kritik ist in einer Reihe von Teilaspekten durchaus richtig. Sie ist aber gerade im Konkreten und der konkreten Abhilfe oft leeres Pathos und wird auch zur Fälschung und Lüge, weil sie gar nicht an echter Humanisierung und gerechter Lösung sozialer sportlicher Probleme interessiert ist, sondern einer gesellschaftlichen Gesamtanalyse und -gesamtstrategie unterworfen bleibt. So müßten zuerst die theoretische Basis der marxistischen Analyse von Mensch und Gesellschaft und Geschichte ebenso die einzelnen Behauptungen auf ihre Haltbarkeit jeweils geprüft werden. Die marxistischen Grundhypothesen sind ebenso ohne Beweis geblieben wie die einzelnen Voraussagen und Kritiken sich oft als Halbwahrheiten oder falsch erwiesen haben. Sie sind nur von einer seltsamen Faszination in Kreisen der westlichen linken Intelligenz bis zu gewissen Theologen hin, während sie im Osten als Staatsgrundlagen durch die herrschenden kommunistischen Parteien mittels politisch-staatlicher Gewalt einfach als gültig erklärt werden.

Vielfaches positives Erleben und Wirken im Sport und im Dienste seiner guten Idee in unserer sogenannten spätkapitalistischen Gesellschaft ist dem unverbildeten Bewußtsein durch eine schematisch-hypothetische Sozial- und Sportkritik nicht einfach für schlecht zu erklären. Wir sind auch durchaus kritisch gegenüber dem Sportbetrieb in den kommunistischen Ländern. Wir kennen die Gefahren und Krisenzeichen unserer Demokratie, aber wir halten diese und eine freie sozial geordnete Wirtschaft jedem Sozialismus-Kollektivismus für weit an Humanität überlegen.

Es wäre aber eine große Gefahr und Vernachlässigung, wenn wir nicht mit wacher Kritik alle Unmenschlichkeiten und Ungerechtigkeiten, die in unserer Gesellschaft auch im Sport Vorkommen können und Vorkommen, wahrnähmen und nach Abhilfe strebten. Einen wertfreien und zweckfreien Sport als solchen gibt es in keiner Gesellschaft. Rechte Sportkritik wird daher immer auch in Verbindung mit Gesellschaftskritik stehen. Woher nehmen wir aber den Maßstab dafür im allgemeinen und im sportlichen Leben im besonderen? Doch nur aus einer kritischen weltanschaulichen Orientierung; als Christen nach den Grundsätzen der christlichen Soziallehre. Es gilt danach, auch im Sport nach einer immer besseren Verwirklichung der Menschenrechte und der sozialen Rechte aller auch auf Sport zu streben. Wir werden dann auf mehr Übel und Aufgaben im Sport stoßen als der Marxist — wir können auch vieles von ihm lernen — und vor allem werden wir schon heute positiv arbeiten, sozial-realistisch, an einer Veränderung zum Besseren.

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