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Gesetz und Verantwortung

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In einer pluralen Gesellschaft gehen die Vorstellungen über Wert und Unwert einer Handlung, über innere Bindung und bloß äußerliche Einhaltung von Gesetzen oft weit auseinander. Es drängt sich also die Frage auf: Dürfen Gesetze nur nach juridischen Gesichtspunkten beurteilt werden oder unterliegen sie auch einer ethischen Betrachtungsweise?

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In einer pluralen Gesellschaft gehen die Vorstellungen über Wert und Unwert einer Handlung, über innere Bindung und bloß äußerliche Einhaltung von Gesetzen oft weit auseinander. Es drängt sich also die Frage auf: Dürfen Gesetze nur nach juridischen Gesichtspunkten beurteilt werden oder unterliegen sie auch einer ethischen Betrachtungsweise?

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Nach der Ansicht vieler Autofahrer gehört die überhöhte Geschwindigkeit auf der Straße lediglich zu den Kavaliersdelikten, die zwar eine Rechtsverletzung darstellen, für die man - falls es einen „erwischt” - zahlen muß, aber damit ist die Sache erledigt. Vergeblich wird von „Autofahrer unterwegs” an die Einsicht der Straßenbenützer appelliert, viele rührt das überhaupt nicht. Es scheint also doch nötig, die innere Stimme anzusprechen, die zur Verantwortung den Mitmenschen und sich selbst gegenüber ruft.

Ähnliches widerfährt auf vielen Gebieten, ob es um mutwilliges Zerstören von Telefonautomaten, um Attacken harmloser Passanten durch Rowdies, um die Suchtgiftszene bis hin zu den Banküberfällen und Gewalttaten von Terrorkommandos geht.

Immer weitere Kreise meinen, in bloß gesetzlichen Anordnungen eine genügende Absicherung für ihr Dasein zu haben. Sie begünstigen damit aber eine zunehmende Willkür ohne innere Hemmungen und schaffen damit die Voraussetzungen für die fortschreitende Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Die gleiche Problematik begegnet uns auch dort, wo man sich erfreulicherweise um die Resozialisation von Rechtsbrechern bemüht. Wird das nämlich nicht fragwürdig, wenn dem Gewicht einer persönlichen Schuld ausgewichen wird, wenn die volle Verantwortung des Missetäters abgeschwächt wird, wenn man sich scheut, ihm ins Gewissen zu reden und so tut, als wäre für die Abkehr vom Unrecht dem Gewissen keine Bedeutung zuzumessen?

Ein Vergehen ist eben kein bloßer Rechtsfall. Uber die äußere Beurteilung hinaus hat der innere Heilungsprozeß eine wesentliche Bedeutung, weshalb Schuldbewußtsein, Gewissen, Verantwortung, Sühne keineswegs überholt sind.

Es darf nun gefragt werden, ob es richtig ist, die Wahrnehmung von Grundwerten und sittlichen Haltungen vorwiegend anderen Instanzen zuzuweisen wie etwa den Eltern, Erziehern, Psychologen, humanitären und religiösen Verbänden. Gewiß hat auch der Christ seine Vorstellungen dazu. Zunächst weiß er, daß er diesen Andersdenkenden nichts aufnötigen darf. Dann aber ist es ihm auch klar, daß er Auffassungen anderer nicht einfach hinnehmen muß. Vielmehr sucht er nachhaltiger als früherden Dialog und hofft, dafür auch auf der Gegenseite Verständnis zu finden.

So fragt er, ob es nicht auch in einer pluralen Gesellschaft Grundgegebenheiten gibt, die allgemein anerkannt werden und gleichzeitig dem rechtlichen und sittlichen Bereich zugeordnet sind. Er stützt sich dabei etwa auf die Deklaration der Menschenrechte seitens der U NO. Diese Rechte dienen der Entfaltung der Persönlichkeit ebenso wie sie zum Besten der menschlichen Gemeinschaften gedacht sind. Sie gehen nun von Grundwerten aus, die einer eigenen Legitimation nicht bedürfen, weil diese ins Menschsein eingeschrieben sind. So ist es wohl eine Utopie, ein friedliches und gerechtes Zusammenleben durch bloße Gesetzgebung und deren rechtliche Durchsetzung garantiert zu sehen. Es bedarf eben auch sittlich anerkannter Normen und der Einsicht in sie.

So fragt der Christ weiter, ob es richtig ist, den Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten als rechtlich erlaubt zu erklären und jede Debatte über die geschaffene Rechtslage mit dem Hinweis auf die parlamentarische Mehrheit beiseite zu schieben. Es wird nämlich geflissentlich übersehen, daß Hand in Hand mit dem Gesetz breite Kreise auch in ihrer sittlichen Einstellung beeinflußt werden, auch wenn das nicht direkt beabsichtigt gewesen sein muß.

Die Tatsache läßt sich nicht leugnen, daß der Entschluß zur Abtreibung wiederholt auch damit begründet wird, es könne nicht schlecht sein, was ein Gesetz erlaube. Inmitten einer wertverworrenen Gesellschaft ist dies das Eingeständnis, in einer gesetzlichen Regelung auch einen Freibrief für sittliches Verhalten zu sehen.

Im Zusammenhang damit stellt sich noch eine weitere Frage: berufen sich die Befürworter der Fristenlösung zurecht auf die alleinige Entscheidungsfreiheit der Frau, die allen anderen das Recht abspricht, sich in ihre höchstpersönliche und private Sphäre einzumic schen? Hat hier die sonst so oft beschworene Solidarität, die soziale Komponente, die Mitmenschlichkeit nicht mitzusprechen?

Geht es - um zunächst nur einen wirtschaftlichen Gesichtspunkt zu erwähnen - kinderliebende Familien wirklich nichts an, wenn sie kinderabweisende Mitbürger in deren Alter mitversorgen müssen trotz der größeren Lasten, die sie schon früher wegen ihrer Kinder auf sich nehmen mußten? Gibt es über das Materielle hinaus nicht eine tiefere Verflochtenheit mit Staat und Gesellschaft, der wir uns alle zu stellen haben, für die wir eine soziale Verantwortung tragen im Guten wie im Bösen, und die wir durch einen egoistischen Rückzug in ein unberührbares Schneckenhaus verletzen?

..... Verantwortung für den

Spruch unseres Gewissens kann uns niemand, wederein Gesetz,. . . noch eine Mehrheit abnehmen ...”

Natürlich hat jedermann für seine Entscheidungen mit seinem Gewissen einzustehen. Auch darüber gibt es in unserer pluralen Gesellschaft recht unterschiedliche Auffassungen. Der religiös Gläubige (nicht nur Christ) sieht in einer höheren Instanz, in Gott, ein entscheidendes Element seiner Gewissensbildung. Ich weiß, wie schwer sich jene tun, die das nicht gelten lassen und ihr Gewissen an der eigenen Geistigkeit oder an der Menschenwürde orientieren wollen.

Aber, wie ist das nun, wenn so oft der persönliche Vorteil, die Bequemlichkeit, der Zuschlag selbstsüchtiger Bestrebungen, die sogenannte „öffentliche Meinung” allerlei Emotionen bis hin zu Haß und Feindschaft recht kräftig mitmischen? Die Aussagekraft eines derart beeinflußten Gewissens wird dann leicht unglaubwürdig.

Wir müßten uns nicht wundern, wenn der unbequeme Anwalt für Güte, Rechtschaffenheit, Geltenlassen, für Verständnis und Opferbereitschaft, auch für das Durchhalten von Problemen und Spannungen, kurz der Anwalt für die Verwirklichung des Guten unter die Räder kommt, unter Umständen auch verleugnet und mundtot gemacht wird. Sich auf das eigene Gewissen zu berufen, ist zweifellos berechtigt, aber es muß sich auf einen Maßstab stützen können, der auch einer strengen Prüfung der Umwelt standhält.

„Mit Rechtssatzungen, die . . . dem Gewissen neutral gegenüberstehen, kann kein Staat auf die Dauer seine Bürger regieren...”

Ob ein solcher auch durch eine parlamentarische Mehrheit gewährleistet ist, wage ich zu bezweifeln. In Gewissensfragen einen Fraktionszwang auszuüben, halte ich für die übelste Form einer unzulässigen Bevormundung, weil es mir unmöglich erscheint, daß dann tatsächlich alle Zustimmenden streng nach ihrem eigenen Gewissen entscheiden. Ich halte dies auch deshalb für anfechtbar, weil in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, daß für Staat und Parteien eine sittliche Grundhaltung keine Bedeutung habe.

Die Verantwortung für den Spruch unseres persönlichen Gewissens kann uns niemand, weder ein Gesetz, noch eine Partei, noch eine Mehrheit abnehmen: dafür hat jeder selbst geradezustehen.

In einer Zeit der Grundsatz- und Grundwertediskussion steht es den Staatsmännern und Politikern durchaus zu, sich darüber Gedanken zu machen. Mit Rechtssatzungen, die jeder moralischen Komponente und dem Gewissen neutral gegenüberstehen, kann kein Staat auf die Dauer seine Bürger regieren, außer Staaten, die bloße Zwangsanstalten sind und freie persönliche Entscheidungen kurzerhand erwürgen.

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