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Gesetze der Geschichte

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Nachdem in den letzten Tagen die Wahl des amerikanischen Präsidenten die allgemeine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hat, ist es an der Zeit, wieder einmal über Europa nachzudenken.

Die Pariser Gipfelkonferenz der von sechs auf neun Mitglieder erweiterten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hat sich vorgenommen, bis 1980 „die Gesamtheit ihrer Beziehungen in eine Europäische Union umzuwandeln.“ Diese Zielsetzung würde voraussetzen, daß auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet die europäische Integration rasche Fortschritte machen kann.

Ich bin keineswegs der Meinung, daß man das in Paris ausgearbeitete Programm skeptisch beurteilen müsse. Denn die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes hat die Partnerstaaten in die Zwangslage versetzt, trotz ihrer unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse das begonnene Werk fortzusetzen. Ein zusätzlicher Zwang kommt von außen, indem Amerika und die Sowjetunion näher zusammengerückt sind und zahlreiche militärische, politische und handelspolitische Vereinbarungen getroffen haben. Beide, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, betrachten Westeuropa mit unverhohlenem Mißtrauen; ihre enorme wirtschaftliche und militärische Macht hat sie befähigt, Europa und die Welt untereinander zu teilen und durch das Gleichgewicht ihrer strategischen Abschreckungswaffen den Krieg so gut wie unmöglich zu machen. Sie konnten weder wegen Kuba noch wegen Westberlin, noch wegen der Tschechoslowakei, noch wegen des Nahen Ostens, noch gar wegen Vietnam einen Atomkrieg riskieren. Diese relative Sicherheit vor einer allgemeinen Zerstörung und Vernichtung bildet die Grundlage der Ost-West-Beziehungen, zumal weder Amerika noch Sowjetrußland wegen ihrer Verbündeten Selbstmord begehen wollen.

Sowohl die bevorstehende europäische Sicherheitskonferenz als auch die nächstes Jahr beginnenden Verhandlungen über den Truppenabbau in Europa erbringen den Beweis dafür, daß Washington und Moskau gemeinsam die Verhältnisse in Europa weiterhin zu bestimmen gewillt sind. Mehr als das: Amerika hat seit den Besuchen Präsident Nixons in Peking und Moskau den Weg für ein großes Handelsgeschäft auf den Märkten dieser beiden Riesenreiche freigelegt, wo künftig die amerikanischen Agrar- und Industrieprodukte den europäischen Handel konkurrenzieren werden.

Demgegenüber kann keine Rede davon sein, daß Westeuropa schon jetzt oder in absehbarer Zukunft als „Dritte Kraft“ oder gar als ein Machtblock zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion auftreten könnte. Der bisherige amerikanische Botschafter bei der Wirtschaftsgemeinschaft in Brüssel, Robert Schätzet hat die Politik seiner Regierung gegenüber Europa einer scharfen Kritik unterzogen. Die amerikanische Furcht, Westeuropa trachte in selbstsüchtiger Weise, Amerikas Handel und Währung zu schädigen, hält Schätzel für unbegründet. Die tatsächlichen Verhältnisse rechtfertigten solche Vorwürfe nicht. Mit der EWG hätten die Vereinigten Staaten eine aktive Handelsbilanz, Europa sei weniger pro-teküonistisch als Japan, Kanada und Amerika. Europa kaufe enorme Mengen amerikanische Industrie- und auch Agrarpro-dukte. Sein Beitrag an die gemeinsame Verteidigung sei beträchtlich; 310.000 amerikanische Soldaten stünden 3 Millionen westeuropäische zur Seite, Amerika wende dafür jährlich 3 Milliarden Dollar auf, Europa 26 Milliarden. Die Administration Nixon habe sich hauptsächlich mit Vietnam, China und Rußland beschäftigt, während sie die amerikanisch-europäischen Beziehungen vernachlässigt habe.

Insbesondere — und das können wir aus europäischer Sicht bestätigen — stehe der Gemeinsame Markt noch im Anfangsstadium seiner Entwicklung, sagte Botschafter Schätzel. Auf den Gebieten des Handels und der Landwirtschaft habe er zwar bedeutende Erfolge erzielt; aber — wörtlich — „in der Finanz-, der Energie-, der Umwelt- und der Sozialpolitik besteht gegenwärtig noch keine reale Gemeinschaft.“

An diesen Punkten hat nun die

Pariser Gipfelkonferenz der neun Partnerstaaten angesetzt. An vorderster Stelle steht die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion, die 1973 beginnen und 1974 in ihre zweite Phase treten soll. Doch dürfte — angesichts der national bedingten Verschiedenheiten — lange Zeit verstreichen, ehe feste Wechselkurse oder gar eine gemeinsame europäische Währung hergestellt werden können. Der Kreuzzug gegen die Inflation, den alle wollen, dessen Erfolg jedoch aufs engste mit weltwirtschaftlichen Fragen zusammenhängt — um von der wirtschaftlichen Notlage in England nicht zu reden — wird lange dauern. Die Stabilität der Preise, der Löhne und der Währungen ist ein ideales und überaus schwer erreichbares Ziel.

Das Schlußkommunique von Paris enthält Absichtserklärungen zu den drängenden Problemen der Hilfe an notleidende Regionen, der Sozialpolitik, der Energiepolitik, des Umweltschutzes, der industriellen, wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung. Allein, wenn voraussichtlich in den nächsten zehn und mehr Jahren mit keiner Kriegsgefahr in Europa zu rechnen ist, so fragt es sich doch, ob der „Kalender“ bis 1980 von den westeuropäischen Partnerländern eingehalten werden kann. Muß man nicht damit rechnen, daß in verschiedenen Staaten — man denke an die katastrophale Lage in England, an die Unruhe in Italien, an Deutschland, das seinen eigenen Weg sucht — innenpolitische Veränderungen vor sich gehen könnten, die die Beschlüsse der Pariser Gipfelkonferenz in Frage stellen würden?

Von einem effektiven politischen Zusammenschluß — oder einer „Union“ — Westeuropas zu reden, wäre offensichtlich verfrüht. Man sucht zwar nach einer „Demokratisierung“ der bisher von beamteten Technokraten und nationalen Ministern nahezu ausschließlich verantworteten Politik der Gemeinschaft. Vergessen wir jedoch nicht, daß Europa nach den Gesetzen lebt, die ihm seine Geschichte hinterlassen hat.

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