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Gestreßte Eltern, frustrierte Kinder

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Es scheint so, daß alle im Tourismus Arbeitenden, angefangen von den Verantwortlichen bis zu den einfachen Mitarbeitern, immer mehr spüren, daß Tourismus nicht nur gesehen werden kann als Wirtschaftsfaktor, sondern daß er ebenso auch gesehen werden muß in seiner kulturell-geistigen, religiösen und sozialen Beziehung. Wir sehen dies aus folgenden Tatsachen: Vor zirka zwei Jahren haben die Verantwortlichen im Land Tirol sieben oder acht Kommissionen eingerichtet, die die verschiedenen Beziehungen des Tourismus zum Umfeld und auch deren Auswirkungen

durchdenken sollen: Etwa Tourismus und Kultur, Tourismus und Architektur, Tourismus und Umwelt, Tourismus und Funktionen, Tourismus und Mensch und ähnliches. Wir sehen das auch, wenn heute in dörflichen Veranstaltungen ganz deutlich und laut darüber nachgedacht wird — voriges Jahr in Sölden - in einer Art „Club 2-Veranstaltung“ über

„Licht und Schatten des Tourismus in unserem Ort“ - oder in einem weiteren Gespräch, zu dem nur Erstverantwortliche von Gemeinde, Fremdenverkehrsverband, Schischule, Liftgesellschaften, Pfarrgemeinde und so weiter geladen wurden, über die Fragen: Wohin mit unserem Tourismus? Wohin mit unserem Ort? ,

Ebenso war kürzlich in Jerzens im Pitztal eine Dorfbildungswoche mit ähnlichen Themen: Tourismus und Raumordnung, Tourismus und Berglandwirtschaft, Tourismus und Dorfgemeinschaft.

Aus all dem ist ersichtlich, daß der Tourismus nicht mehr allein betrachtet werden kann als guter Devisenbringer.

In seiner Beziehung zur Gesellschaft insbesondere in einem Dorf können wir Verschiedenes feststellen: Ich möchte zunächst wesentliche positive Dinge aufzählen:

Neben dieser Existenz für viele Tausende in einem Tal und erst recht im ganzen Land - direkt in , den verschiedensten Gastronomiebetrieben und Seilbahn- und Liftgesellschaften und indirekt in vielen Gewerbebranchen durch die ganze Vernetzung - scheint mir der Tourismus die beste Möglichkeit zu bieten, die ganz entscheidende Tugend der Toleranz zu üben. Der Tourismus ist eine beste Möglichkeit, Menschen mit verschiedenen Kulturen und Anschauungen friedlich zusammenzuführen, so daß wir in etwa sagen können: „Tourismus ist Friede“. Wenn wir auf die Kirche schauen, dann können wir in jeder Tourismusgemeinde immer wieder den weltweiten Charakter der Kirche, wie auch das gute Beispiel von vielen praktizierenden, tief gläubigen Gästen erleben.

Noch manches Positive könnte hier genannt werden.

Es hieße jedoch den Kopf in den Sand stecken, würden wir nicht auch die verschiedensten Gefahren, die der Tourismus mit sich bringt, sehen.

Da ist einmal die Gefahr der Uberbetonung des Materiellen und die Gefahr der Vernachlässigung der kulturellen, geistigen und religiösen Werte: Der Touris

mus ist oft ein harter Job und stark vom Konkurrenzkampf geprägt. Treue, Geborgenheit, Rücksichtnahme, Zufriedenheit, innere Freude, Güte und Glaube haben weithin keinen Stellenwert. Aber gerade diese Werte machen eine Gesellschaft zu einem Lebensraum, in dem der einzelne ernst genommen wird und menschlich leben kann. Wohlgemerkt, alle diese Werte sind lebensnotwendig für einen Menschen, und der einzelne sehnt sich danach, aber gekauft werden können sie auch um das „große Geld“ nicht. Es braucht eine harte Arbeit und eine dementsprechende gläubige Sicht des Lebens.

Es besteht auch die Gefahr, daß echte gewachsene Volkskultur vernachlässigt wird oder in umgekehrtem Sinne, wenn sie wieder zur Mode erhoben wird, vermarktet wird (zum Beispiel Almabtrieb im Spätsommer, verschiedene Faschingsbräuche und anderes mehr).

Wenn ich den religiösen Bereich hernehme, dann ist etwas Ähnliches festzustellen: Für Gott, den Sonntag, das Gebet bleibt oft sehr wenig oder keine Zeit. Die christliche Soziallehre hat den ganzen touristischen Bereich — man muß wohl sagen — überhaupt noch nicht berührt.

Es besteht eine große Gefahr, daß im Tourismus und durch ihn eine geistige Einengung auf das bloße Nutzdenken erfolgt. Natürlich hat dies alles dementsprechende Auswirkungen auf das ganze Gefüge und Zusammenspiel in einer Gemeinde. Vom ständigen Druck konkurrenzfähig zu sein gedrängt, wird investiert, ausgebaut und qualitätsmäßig verbessert und werden wiederum Schulden gemacht, um nicht so viel Steuern zahlen zu müssen, und dabei fällt mehr Arbeit an (ein gewisser Teufelskreis). Dadurch verlieren viele die geistige Lebensmitte und kommen zu einer Art Arbeitshysterie: Sie leben, um zu arbeiten, statt umgekehrt: Wir wollen doch arbeiten, um zu leben.

Für ausgesprochene Tourismusgemeinden ist oft die Gefahr da, daß das sogenannte soziale Gewissen lahmgelegt wird, das heißt, daß Menschen, die notwendig angewiesen sind auf die Mithilfe ihrer Mitmenschen, vernachlässigt werden - oft nicht mehr gesehen werden - Kinder, Kranke, Alleinstehende, Behinderte, geistig und materiell Arme - auch in wirtschaftlich gutgestellten Gemeinden gibt es sie.

Ein Blick auf die Familie zeigt uns, daß es natürlich gerade hier ganz bedeutende Spannungen gibt. Allgemein müssen wir in der Schule als Lehrer feststellen, daß viele Kinder oft unter dem Defizit an Geborgenheit leiden, und daß Mütter und Väter infolge der Beanspruchung durch die Gäste oft nicht mehr die Zeit und die nötige Spannkraft haben, ihre Kinder zu begaben, sich mit ihnen genügend abzugeben, sich ihnen zuzuwenden. Die Folge davon ist die bewußte oder unbewußte Frustration mancher Kinder und die Abneigung vieler Kinder den Gästen gegenüber. Was an Materiellem für die Familie mehr bei der Türe

hereinkommt, fließt an Geistigem beim Fenster hinaus.

Ich möchte noch einige Impulse geben, damit das Positive des Tourismus zum Tragen kommt und nicht durch Negatives hintangehalten oder aufgehoben wird:

• Im gesamten Denken im Tourismus und bei allen touristischen Überlegungen und Entscheidungen muß der Mensch im Mittelpunkt stehen.

• Für den Tourismus braucht es nicht nur eine ökonomische Infrastruktur, sondern eine ökonomisch-ökologische und eine geistig-kulturelle und religiöse In

frastruktur.

• Jede Tourismusgemeinde tut gut, wenn sich im Jahr mindestens einmal je ein Verantwortlicher der tragenden Körperschaften (politische Gemeinde, Schischule, Bergführer, Liftgesellschaften, Fremdenverkehrsverband, Pfarrgemeinde, Jugend und so weiter) zusammensetzen, um den Fragen nachzugehen: Wohin wollen wir mit unserem Tourismus? Wohin wollen wir mit unserem Dorf? Was herauskommt, sollte verbindlichen Charakter haben.

• In einer Familie sollte vor Saisonbeginn mit den Kindern und

Jugendlichen gesprochen werden (Familienrat), auf was der Gäste wegen nicht verzichtet und auf was während dieser Zeit besonders geachtet werden soll.

• Ebenso scheint mir vor Beginn der Saison eine gute Zeitplanung bei den Eltern notwendig zu sein, damit das, was die Familie nicht entbehren kann, nicht zurückstehen muß.

Der Tourismus darf nicht zu einem eiskalten, herzlosen Geschäft degradiert werden. Er muß zu einem menschlichen Tourismus heranwachsen können.

Der Autor ist Pfarrer von Sölden und geistlicher Assistent des Tourismusreferates der Diözese Innsbruck.

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