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Gestriges - hochaktuell

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Zwischen dem Steirischen Herbst und den Berliner Festwochen 1977 läßt sich vor allem auf dem Musiksektor eine Parallele ziehen: Deutliche Rückkehrbestrebungen zu Tonalität und nostalgisches Sentiment. Das Leitmotiv der Darbietungen - Aufbruch zu neuen Wirklichkeiten im ersten Drittel unseres Jahrhunderts - spiegelte sich in beachtlicher Repertoirefülle verschiedenartigster Kompositionen wider und bewies, bei einem gewissen Verlust des revolutionären Charakters, zwingende Aktualität. Nach der großen Ablöse, der Wende in der Musik vom Idealen zur Realität, war der daraus resultierende Trivialcharakter der Operetten-, Revue- und Unterhaltungsmusik ein ebensolches Phänomen wie die künstlerische Verherrlichung der Maschinenromantik, deren Bedeutung man damals mit Ernsthaftigkeit und Engagement zur Doktrin erhob. So brachte sie uns das Hamburger Ensemble „Das neue Werk“ in einem Kaleidoskop-Konzert zu Gehör: Pastoralgesänge von Darius Milhaud mit dem Titel ,Jdachines Agricoles“, ein Scherzo von Charles įves „Over the Pavements“ (1913) aus synkopierten Schrittfolgen von Schuhen und Wagengeräuschen auf Straßenpflaster, die Burleske für Bläser, Klavier und Schlagzeug von Karl Amadeus Hartmann (1930), eine rhythmisch und tonal witzig und geistreich abschattierte Nummer circensi- scher Musik.

In der Berliner Akademie der Künste bot das Ensemble der Gruppe Neue Musik unter Gerald Humel Konzertkolla- gen: Klaus Billing spielte virtuos BIL- sonis Toccata für Klavier, ein romantisches Parlando mit Hackholz-Verve, der Komponist Georg Antheil ironisierte und persiflierte seine „Airplane Sonate für Klavier“ in harten Synkopen, und als Kontrast zur maschinellen Verherrlichung bildeten Schlager und Chansons aus Operetten und Revuen von Benatzki, Nelson, Kollo, Raymond und Hollaender den vielbejubelten Abschluß eines auch vom Besucherbild her unkonventionell aufgelockerten Abends.

Das Radio Symphonie Orchester unter Gary Bertini entfaltete in Albert Roussels „Suite en fa“ den Glanz neoklassizistischer Eleganz und bezaw berte mit Milhaüds Ballettpantomime „Le Boeufsur le Toit“. Die Partitur der Tanzsuite bewegt sich parodierend und melodisch frech akzentuierend in brillanten musikalischen Untiefen, die auch den Jazz salonfähig machen. Als Kontrast: Strawinskys „Oedipus Rex“, acht Jahre später (1927) entstanden, eine disziplinierte Synthese aus Pathos und verhaltener Intensität, dargeboten als mächtiges Klangtableau, stahlhart und monumental.

Die Wandlungen des modernen Klavierstils demonstrierten die Brüder Alfons und Aloys Kontarsky an Hand so unterschiedlicher Kompositionen wie

Busonis Improvisation über einen Bach-Coräl, Strawinskys „Concerto per due Pianoforti Soli“, Casellas „Pu- pazetti“, Milhaüds „Scaramouche“ und Bartöks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug. Werke, die zwischen 1916 und 1938 datieren und von Monumentalcharakter über impressionistische Skizzen im Sinne des mechanischen Puppentheaters bis zu bitonalen Trivialklängen, ja, bis zur Klangverschmelzung zwischen Klavier und Schlagzeug mit humorvoller Bezüg- lichkeit alle Farben spielen lassen.

Und daneben Chansons, Polit- und Brettl-Lieder, vorgetragen von Milva, Catherine Gayer, Hanne Wieder und vielen anderen mit der Conference von Theo Lingen, die uns das Fehlen so großartiger Texter wie Tucholsky, Mascha Kaleko und Klabund bewußt machten. Auch der erst fünf Jahre alte Hanns-Eisler-Chor, der Musik der Arbeiterbewegung auf breiter Ebene praktiziert und dessen Songs der 20er Jahre zwischen Großstadt und Maschinen, Krieg und Streik angesiedelt sind, der sozialkritische Gesänge in markanten, cantablen Vertonungen von Orff Hindemith und Weill zu Gehör bringt, verdient Beachtung.

Wenn Hindemith 1947 in Amerika Benny Goodman ein Konzert für Klarinette und Orchester widmete, das zwischen Pseudoklassik und Jazz mit deutlichen Gershwin-Accessoires versehen charmant dahinperlt (geistvoll interpretiert von Jorg Fadle), so erstaunt dieser Rückgriff auf Gebrauchstonalität um so mehr nach dem Besuch seiner

Oper „Cardillac“. Die Uraufführung der Legende vom Goldschmied, der jeden Käufer seiner Preziosen umbringt, 1926 in Dresden nur ein Achtungserfolg, wurde an der Deutschen Oper mit verblüffend einmütigem Beifall auf genommen. Die benutzte Urfassung stellt der Bühnenbildner Achim Frey er in ein barockes’Kulissentheater, aus dessen dunklen Wänden Masken und Fratzen einer pompös ausstaffierten höfischen Gesellschaft zu Voyeuren werden, die in Hans Neugebauers streng stil isierter Regie das Spiel durch ihre somnambule Anwesenheit gleichsam kommentieren.

Das aufsehenerregendste Opernereignis Berlins aber ist zur Zeit Wagners „Parsifal“ in der Deutschen Staatsoper im Osten der Stadt. Hier schafft der Regisseur Harry Kupfer in Peter Syko- ras monumentalen Bildern neue Aspekte mit deutlicher Tendenz einer Retrospektive der 30er Jahre. Empha- tik der Gebärde bis fast zur Outrage, unterstützt von einem ebenso rauschhaft-vordergründigen Orchesterklang (Dirigent: Otmar Suitner) wie auch einer allgemein erkennbaren Neubelebung des Lehmbruck- und Arno-Bre- ker-Stils in Kolossalstatuen, zeichnen diese erstaunliche Wiedergabe aus.

Romantische, expressive, expressionistische Tendenzen in Bild und Ton - so gefällt sich die neu-alte deutsche Welle auf dem Musiksektor, abzulesen an den jüngsten Interpretationen in Berlin.

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