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Gesucht sind Traditionen

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Die Entkoppelung von Religion und Wissenschaft in den letzten Jahrhunderten und ihre Folgen standen heuer inn Mittelpunkt des Europäischen Forums im Tiroler Bergdorf Alpbach.

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Die Entkoppelung von Religion und Wissenschaft in den letzten Jahrhunderten und ihre Folgen standen heuer inn Mittelpunkt des Europäischen Forums im Tiroler Bergdorf Alpbach.

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Der Blitz schlägt auf einem flachen Gletscher fast unberechenbar ein. Roman Sexl, Physiker an der Universität Wien, nannte dieses Beispiel in einem Vortrag über „Chaos und sanfte Ordnung". Ein Blitz ganz anderer Art hat mehr noch getroffen und gespalten: Weltbilder, Traditionen.

In der Standortbestimmung zum Thema „Wissen - Glaube -Skepsis" beim 39. Europäischen Forum Alpbach machte der Zürcher Philosoph Hermann Lübbe überdeutlich, daß ein Verlust an Weltbild entscheidend die Diagnose der gegenwärtigen Situation der Zeit bestimmt. Lübbe konstatierte generell

• kulturellen Geltungsschwund der Wissenschaften;

• Erfahrungsverluste im Verhältnis von Glauben, Religion und Wissenschaft und schließlich

• Skepsis als Element freier Lebenskultur.

Nun ist der kulturelle Geltungsschwund der Wissenschaften nicht von selbst entstanden, sondern wurde ü. a. in entscheidendem Maße von der Neuen Linken, der Frankfurter Schule des Adorno, Horkheimer und Habermas wie von Herbert Marcuse vorangetrieben. Dazu fanden sich dann noch Kritiker aus den Reihen vergrämter Naturwissenschafter, die den Überdruß an soviel unnützer Forschung für alle verständlich via Medien artikulierten.

Belastendere Nebenfolgen der Anhäufung von Wissen sind für Lübbe: 1. der Schwund der Gewißheit über die Zukunft, 2. die Verluste an persönlicher Erfahrung und 3. die Grenzen der Innovationsverarbeitung.

Im ersten Punkt greift wegen der Finsternis Angst um sich, zum zweiten wußte man früher, in bäuerlich-ländlicher Struktur, über Bedingungen und Vorstellungen der physischen und sozialen Existenz genau Bescheid. Im Augenblick aber wird auf diesem Gebiet so wenig verstanden wie noch nie. Allein Vertrauen auf den Nachbarn garantiert noch das ungefähre Miteinander.

Und drittens zeigt sich an einem Generationenbeispiel die Grenze der Innovationsverarbeitung. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn kehrt dieser nach seinem Scheitern in die väterliche Welt und zu den in ihr geltenden kulturellen Regeln zurück. Das ist heute so nicht mehr möglich. Die Belastungen dieses Bruchs, so Lübbe, hat die Jugend zu tragen: „Ihr Problem ist, daß sie für ihren Weg in die Zukunft sich weniger als je eine Generation zuvor an bewährten Traditionen orientieren kann." Das Problem liegt also auf der Hand. Gesucht sind neue Leitlinien, Traditionen.

So sehr dies bekannt ist, so schwierig wird die Suche, da alles austauschbar geworden ist, jede Weltbildänderung kaum noch Interesse findet und die großen Weltbildkonkurrenzen, wie der Zürcher Philosoph meint, zwischen Wissenschaft und Religion längst eine abgeschlossene Epoche darstellen.

Die Religion bietet sich dar als „die kulturelle Form der unumgänglichen- Bemühung des Menschen .... sich zum Unverfügbaren in eine lebensdienliche Beziehung zu setzen". Die Wissenschaft hat sich damit zu begnügen, in ihrer wichtigsten verbleibenden kulturellen Bedeutung ein Medium freiheitssichernder Skepsis zu sein.

Man muß eine Volte schlagen zu jenen Alpbacher Äußerungen, die sich mit der „Berechenbarkeit der Welt" beschäftigten. Denn die Naturwissenschaf ter' haben offensichtlich mit der Freiheit des Menschen im Augenblick einiges im Sinn. Was die Evolution angeht und jene Erkenntnistheorie, die man mit dem Begriff „evolutionär" daraus ableitet, haben Konrad Lorenz und Karl Raimund Popper in einem Zwiegespräch abgehandelt, und da tauchte unvermittelt die Freiheit vor allem bei Lorenz auf.

Nachfrage zu halten war dann beim Wiener Philosophen Erhard Oeser. Denn das Gehirn als materielles Instrument des Erkennens zwingt den Menschen an die Grenzen der Fähigkeit dieses Gehirns. Geht es aber auch darüber hinaus?

Oeser sieht das so; mit Hilfe des Gehirns sind die Grenzen der Sinnesorgane zu überschreiten, man kann sie mit Fernrohr, Mikroskop und Computer verlängern. Das Gehirn kann planen und die Te-leologie, die Zielbezogenheit, und die Erkenntnis eines Ziels sind nicht ausgeschlossen, man kann auch viele Gehirne in Kommunikation zusammenschalten. Das Reich der Determination scheint gesprengt.

Versucht man von selten der Biologie und Physik womöglich eine neue Ideologie herzustellen, nachdem die politischen Ismen Faschismus, Nationalsozialismus, Marxismus wissenschaftlich kaum mehr Meriten für sich buchen können?

Doch hat die Sache mit der Biologie oder Physik auch noch einen Haken, von dem Roman Sexl sprach. Daß sozial-soziologische Einflüsse auch auf den „objektiven" Wissenschafter einwirken. Und hinter jeder Physik stehe, auch unausgesprochen: Metaphysik.

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