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Gesunde Aggression dient menschlicher Entfaltung

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Man versteht unter Aggression heute ganz allgemein nur den unangemessenen, kämpferischen, mehr oder weniger gewalttätigen Angriff. All unser Nachdenken über Aggression entspringt dem elementaren Bedürfnis des Menschen nach Frieden. Aber den Zustand der Kon-fliktlosigkeit gibt es nirgends.

Diese Erkenntnis ist nötig als Voraussetzung für eine realitätsgerechte Aggressionsforschung. Es ist in der Natur eben wirklich so, wie es ein alter Spruch sagt: „Der ewige Frieden ist ein Traum — und nicht einmal ein schöner!" Absolute Konfliktlosigkeit ist lebensfeindlich. Erstarrung, Verfettung, Zurückbleiben und Entartung geschehen grundsätzlich

dort, wo der Wille zur Selbstbehauptung überflüssig ist und daher zurückgenommen wird oder verkümmert.

Nur wenn wir die positive Funktion dieses Willens zur Selbstbehauptung anerkennen, haben wir Aussicht, mit ihm richtig umgehen zu lernen, nämlich so, daß er sich nicht verselbständigt.

Wie sehr der Wille zur Selbstbehauptung ein biologischer Antrieb ist, läßt sich gerade an seinen Fehlentwicklungen durch extreme Erziehungsmethoden erfahren. Nicht nur verwöhnende und überbesorgte, alle Entscheidungen abnehmende Großmütter erzielen nämlich ein faules und aggressives Verhalten der Kinder, sondern auch das gegenteilige Prinzip bringt den gleichen Mißerfolg.

Wenn Mütter den Kindern keinerlei Widerstand entgegensetzen

und sie entscheiden lassen, was sie tun möchten, also jede „Unterdrückung" peinlichst vermeiden, werden ihre Kinder doch immer aggressiver.

Daß der Frieden in solchen Fällen erst wieder hergestellt ist, wenn schließlich entgegen allen Grundsätzen die Ohrfeige doch versetzt, die Tracht Prügel doch verpaßt wurde, dürfte von vorurteilsfreien Konfliktforschern nicht übersehen werden. Und wenn der Trieb zur Selbstbehauptung, der Eigenwille des Kindes ständig mit Gewalt gebrochen wird, leidet es unter einem erhöhten Aggressionsdruck, der nach Entlastung drängt. Der Umgang mit solchen Menschen ist extrem schwer, da ßie nicht gemeinschaftsfähig sind.

Das Kind muß Ablehnung erfahren, wenn es angreift, und Abweisung als Folge eines nörgelnden Uberanspruchs. Es muß auf jeden Fall erleben, daß es mit seinen Ansprüchen auch an die Grenzen der Rechte anderer stößt und daß diese anderen sich dann wehren und ihre Rechte verteidigen.

Schon die Erfahrung von Kindertherapeuten, daß die Zulassung aggressiver Spiele manche Kinder von Ängsten, Hemmungen und speziellen Verhaltensstörungen heilen kann, zeigt, daß wir

ein unrealistisches Menschenbild entwerfen, wenn wir die biologische Wurzel der Aggression als einen Antrieb zur Selbstbehauptung verleugnen.

Das Ziel des Menschen heißt: sich behaupten, sich Lebensraum schaffen, Lebensrecht durchsetzen können. Die innere, angeborene Bereitschaft heißt: Bedürfnis zum Herangehen, zum Gebrauch der Ellenbogen, sich nicht alles gefallen zu lassen, sich zu widersetzen, selbst zu wollen, anders zu wollen, Beengungen zurückzustoßen, Fesseln zu sprengen. Die erwartete Antwort heißt: Einübung zum Selbständigwerden eingeräumt zu bekommen, an seine Grenzen zu stoßen und dadurch zu lernen, sich abzugrenzen und in die Alleinbewältigung genötigt zu werden

Bereits Jugendliche können an schwerer, krankhafter Niedergeschlagenheit und stumpfer Mutlosigkeit — medizinisch gesagt: an reaktiven Depressionen — leiden, wenn eine verwöhnende, überbehütende oder super-antiautoritä-re Erziehung ihnen die Einübung in Aggression und damit die Ablösung von der Person, an die man zunächst gebunden war, verwehrt. Die scheinbare Sanftheit solcher Jugendlicher ist im Grunde nur die Apathie der Hoffnungslosigkeit.

Der apathische Frieden des Menschen, dem sein Lebensrecht genommen ist oder der es nicht in Anspruch zu nehmen wagt, ist grundsätzlich nur ein Scheinfrieden. Der muntere und energische Zugriff auf die Welt ist zwar verloren, aber statt dessen überschreitet der reaktiv Depressive dennoch fortgesetzt seine Grenzen, indem er seine Umwelt in seine Verdüsterung hineinnötigt.

Die erste Ablösung hängt mit der Einübung der motorischen Eigenständigkeit zusammen und findet in der Trotzphase des Kleinkindes statt. Hier gehen Mutter und Kind auf Abstand, es vollzieht sich die seelische Abnabelung, die der körperlichen Abnabelung der Geburt im Abstand einiger Jahre nachzufolgen hat. Daß dieser Schritt gelingt, ist deshalb so fundamental wichtig, weil sich hier zugleich die Möglichkeit für alle spätere Selbstbehauptung entfaltet.

Psychologisch gesagt: die gelungene partielle Ablösung in der ersten Trotzphase bewirkt gleichzeitig die Konstituierung des Ich. Seine notwendige Abgrenzung gegen die andern läßt dann das „Ego", also den vitalen Kern der Person, erstarken, ohne den der Mensch in seinem Lebenskampf nicht bestehen kann.

Die Pubertät des Menschen ist in unserer heutigen, weitgehend patriarchalischen Gesellschaft vor allem ein Absetzen vom Vater, ein mehr oder weniger zur Schau getragener Protest gegen ihn und sein ganzes „System"; es ist gekennzeichnet vom unbekümmerten Hochmut, die Welt und das eigene Leben anders und besser gestalten zu können als es dem Vater gelang.

Zu krankhaft übersteigerten Extremen im Verhalten Jugendlicher kommt es dann, wenn der gesunde Kern—das normale Ich-Potential einer gelungenen ersten Ablösungsphase—nicht erworben wurde. Entweder bleibt nämlich die Ablösung vom Elternhaus ganz aus und bewirkt so eine gefährliche Abhängigkeit und Unselbständigkeit, oder es kommt zu Exzessen: der Jugendliche löst sich in halsbrecherischer Uber-. treibung, mit Haß, mit Rachegefühlen und übermäßigem Anderswollen und Verweigern, vom Elternhaus ab. Viele Jugendliche brechen dann ihre Ausbildung ab, begeben sich in Gammlertrupps oder unter Sektierer und Revolutionäre.

Die Pubertät ist die Vorbereitung auf die Ablösung aus der Verhaftung in Traditionen, auf die Ausbildung der Fähigkeit zu eigenständiger, kritischer Urteilsbildung, Ablösung aus familiärem Egoismus und aus Gruppenegoismus. Dies alles ist der Ablösungsschritt des Erwachsenen, des Dreißig- bis Vierzigjährigen, der so befähigt wird, sich überpersönlichen Zielen zuzuwenden. Diese dritte Ablösung kann nur gelingen, wenn auf der Basis realitätsgerechter Ablösung in der Pubertät existentielle Selbständigkeit und finanzielle Unabhängigkeit erreicht wurden.

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