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Gesundheit — das kostet Geld

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Von altersher wünschen wohlmeinende Menschen einander bei jeder Gelegenheit „vor allem Gesundheit“ und versichern wortreich, daß die Gesundheit „halt doch das Wichtigste“ wäre. So ist es beinahe verwunderlich, daß die Politik bisher einen großen Bogen um die Fragen der Gesundheit gemacht hat — sie führte als Teilgebiet der Sozialpolitik ein kümmerliches Schattendasein und erhitzte die Gemüter höchstens im Zusammenhang mit Spitalsdefl- ziten oder Honorarauseinandersetzungen zwischen Ärzten und Krankenkassen.

Nach dem 10. Oktober soll das nun aber offenbar anders werden.

„Gesünder leben“ verspricht (oder fordert?) die ÖVP in einem ihrer Wahlplakate, eröffnet ihr 107- Punkte-Programm mit sieben gesundheitspolitischen Forderungen und verstreut in diesem Programm noch weitere 14 gesundheitspolitisch relevante Vorschläge in den Abschnitten für die Frau, für die Familie und andere, um dann im Punkt XI — „Saubere Umwelt“ — einen zweiten gesundheitspolitischen Höhepunkt anzusteuern.

Den „umfassenden Kampf gegen das Sterben vor der Zeit“ erklärte Dr. Kreisky in seiner Rede vor dem sozialistischen Parteirat zur zweiten großen Aufgabe (nach der traditionsgemäß an der Spitze stehenden Sozialpolitik) der kommenden Legislaturperiode.

Und auch die FPÖ wird sich diesen populären Forderungen nicht verschließen, wenn sich ihre gesundheitspolitische Aktivität auch auf die Wiederkandidatur des bisher einzigen Arztes in Österreichs gesetzgebender Körperschaft beschränkt.

Es erhebt sich allerdings die Frage, inwieweit hinter den meist sehr allgemein formulierten Forderungen konkrete Vorstellungen zumindest hinsichtlich einiger Punkte stehen und ob man sich in den Parteiquartieren den Kopf darüber zerbrochen hat, wer alle diese schönen Dinge finanzieren soll.

Die Minderheitsregierung Kreisky hatte nach dem 1. März 1970 das „Humanprogramm“ als politische Zielvorstellung aus dem Wahlkampf übernommen, aber offensichtlich am Tage der Regierungserklärung ad acta gelegt. Übrig blieb eine Krankenkassenenquete, die sich auf eine Katalogisierung der Probleme beschränkte und es gewissenhaft vermied, irgendwelche nicht systemimmanente Vorschläge oder Forderungen zu formulieren.

Das alles, obwohl zumindest von der großen Oppositionspartei die Bereitschaft zur gemeinsamen Lösung mancher Probleme nach dem Gleichklang der Programme für den 10. Oktober zumindest zu vermuten gewesen wäre.

Für die ÖVP hat das Ministerium Rehor die Reorganisation des Krankenanstaltenwesens in Angriff genommen, ohne allerdings die Widerstände der Landesfürsten und Gemeindehäupter gegen eine regionale Planung und überregionale Koordination überwinden zu können.

Was kommt also nach dem 10. Oktober wirklich? Wieder nichts? Jedenfalls nimmt zur Frage der Finanzierung Kreisky im sozialistischen Wahlprogramm nicht Stellung, er meidet sogar geflissentlich das Thema Sozialversicherung, das ja auch schon im Humanprogramm ausgeklammert geblieben war. Seine Ankündigung der systematischen Erfassung und Überwachung von „Verschmutzern“ im Punkt „Umweltschutz“ erinnert fatal an die Erweckung der Gespenster des Klassenkampfes im vergangenen Jahr, als er die Meinung vertrat, daß einzig und allein derjenige die Kosten des Umweltschutzes zu. tragen habe, der die Umwelt verschmutze — und das sei natürlich der Unternehmer. Die versprochene „Förderung“ jener Zukunftsindustrien, „die sich mit Geräten und Einrichtungen befassen, die dem Umweltschutz dienen“, läßt einerseits befürchten, daß wir von einer Lösung des Problems noch sehr weit entfernt sind, anderseits aber doch hoffen, daß sich die Erkenntnis durchsetze, daß die gesamte Gesellschaft, die ja auch Nutznießerin der Industrialisierung ist, ihre Lasten zu tragen haben wird — die gesamte Geselllschaft, nicht der Unternehmer allein, nicht der Bundeshaushalt allein.

So ähnlich steht es auch im ÖVP- Programm zu lesen, das im Punkt „Saubere Umwelt“ ansonsten einen bemerkenswerten Trend zu gesetzlichen Zwangsmaßnahmen, Kontrollen und Verboten zeigt. Beachtlichen Mut und Realismus beweist die ÖVP in der Frage der Finanzierung der Gesundheitspolitik im engeren Sinn. Nicht nur, daß sie im Abschnitt „Gesünder leben" eine Systemänderung in der Krankenversicherung, eine leistungsgerechte Ärztehonorierung zur Hebung der Effizienz der ärztlichen Behandlung fordert, ließ sie in einer Pressekonferenz aus Anlaß der Präsentation ihrer „Leitlinien einer österreichischen Gesundheitspolitik“ durch Generalsekretär Doktor Kohlmaier verkünden, daß nach ihrer Auffassung die Kosten des Gesundheitswesens auf „drei Säulen“ der Finanzierung aufgeteilt werden müssen: auf den Staat, auf die Versicherungsträger und auf die Patienten. Dabei erhofft sie sich von einer „Umschichtung“ im Kassenwesen eine wesentliche Entspannung der wirtschaftlichen Situation dieser Versicherungsträger und — wenn auch auf weitere Sicht — eine Entlastung durch die Förderung vorbeugender und früherkennender Maßnahmen, die freilich vorerst Geld kosten.

Daß die Finanzierung — so umpopulär diese Frage sein mag — aus den Überlegungen nicht ausgeklammert werden kann, zeigen die Berechnungen der Krankenkassenenquete, die selbst bei kräftiger Anhebung und Dynamisierung der Höchstbeitragsgrundlagen für die ASVG-Kassen Milliardendefizite schon bei Beibehaltung der geltenden Regelungen spätestens ab 1977 in Aussicht stellt. Jetzt soll so vieles verbessert, so viel geboten werden …

Vorrang für die Gesundheit: eine Forderung nicht nur an den Politiker, sondern an die ganze Gesellschaft; weil sich Gesundheit nicht gesetzlich vorschreiben läßt und weil sie Geld, viel Geld kostet. Vor allem aber, weil wir wieder lernen werden müssen, daß Gesundheit nicht eine Pflichtleistung der Gesellschaft ist, sondern zuerst im Interesse und Verantwortungsbereich des einzelnen liegt.

Darf man das im Wahlkampf sagen?

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