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Gesundheit: keine Privatsache

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Die Bemühungen, exakt zu beschreiben und zu definieren, was Gesundheit ist, sind so alt wie die Medizin als Wissenschaft selbst. Je nach den Zeiten und ihren geistigen Strömungen und je nach den Menschen und ihren Einstellungen zum Leben fiel diese Definition unterschiedlich, ja sogar gegensätzlich aus.

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Die Bemühungen, exakt zu beschreiben und zu definieren, was Gesundheit ist, sind so alt wie die Medizin als Wissenschaft selbst. Je nach den Zeiten und ihren geistigen Strömungen und je nach den Menschen und ihren Einstellungen zum Leben fiel diese Definition unterschiedlich, ja sogar gegensätzlich aus.

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Gesundheit galt lange Zeit als ein hypothetischer Normal- oder auch Gleichgewichtszustand, gleichsam als das „Normale". Erst eine Beeinträchtigung dieses Normalzustandes führte dann zu einer begrifflichen Abgrenzung im Sinne von Gesundheit als Freisein von Krankheit. Von daher gesehen galt Krankheit als eine sichtbare anatomische Veränderung und damit als eine Abweichung vom statistischen Normalzustand.

Auch heute versucht man noch, mit Hilfe von Check-up und automatischen Analysegeräten aus so erhobenen Daten und ihrem Vergleich mit einer künstlich gemittelten Norm auf Anomalien der Funktion des Organismus zu schließen (z. B. beim Bluthochdruck oder bei histologischen Untersuchungen) und dies als fehlende Gesundheit zu interpretieren.

Zielsetzung und Aufgabenstellung für das Gesundheitswesen liegen dann darin, diese fehlende Gesundheit soweit wie nur eben denkbar und möglich wiederherzustellen. Wenn man einmal intensiv darüber nachdenkt, dann kann dieser alte Gesundheitsbegriff als Abwesenheit von biomedizinischer Krankheit heute nicht mehr befriedigen. Noch weniger entspricht der juristische Gesundheitsbegriff der Krankenkassen den heutigen Verhältnissen, wenn er „Arbeitsunfähigkeit" zum Kriterium der Gesundheit macht.

Geht man aus von der gegenwärtigen Situation.'des Individuums: und der Gesellschaft, berücksichtigen wir die psychosomatischen und psycho-s jzialen Formen des Krankseins, dann muß ein dem heutigen Verständnis entsprechender Gesundheitsbegriff gleichermaßen den physischen, psychischen und sozialen Bereich unseres Lebens implizieren. Und in der Regel geht man dann heute auch von diesen drei Lebensbereichen aus, wenn man Gesundheit definiert:

Gesund ist, wer seinen jeweiligen Lebensbedingungen gerecht wird,

wobei die Relation zwischen Anpassungsbreite (körperlich-physiologisch, psychisch und sozial determiniert) und Umwelt über die Erfüllung des Gesundheitsbegriffes entscheidet.

Wenn wir die Dinge so betrachten, ist es Aufgabe des Gesundheitswesens, dem einzelnen Menschen seine Gesundheit als Kraft zum Menschsein zu erhalten oder, im Falle einer Beeinträchtigung diese Kraft, wiederherzustellen. Ziel aller im Rahmen des Gesundheitswesens wirkenden Einrichtungen und Personen ist es mithin, den einzelnen Menschen zu unterstützen und in die Lage zu versetzen, erschwerte Umweltsituationen einerseits und körperliche, psychische, soziale Beeinträchtigungen andererseits innerhalb einer bestimmten Anpassungsbreite zu harmonisieren.

Die allzu vordergründigen Zielvorstellungen im Gesundheitswesen, nach denen es um das Erkennen, Heilen, Bessern und Lindern der jeweiligen Krankheit im Einzelfall geht, gehören mithin der Vergangenheit an. Gesundheit war für den einzelnen Menschen die natürliche, die so völlig selbstverständliche Fähigkeit, Konflikte auszuhalten, Widerstände zu leisten, unter Streß zu leben, sein Leben zu führen, das Krankwerden zu ertragen und seine Leiden sinnvoll zu machen.

Aber diese Kunst ist heute verkümmert, vertrocknet und versiegt, gilt nicht mehr; sie ist mehr und mehr verlorengegangen, wie es die Pathologie des Alltages mit seiner Hektik, seiner so krankhaften Medikalisie-rung alles Morbiden zeigt, die zur Verarztung auch des Normalen führen kann - mit der Gefahr, in eine verordnete Krankheit zu münden, der allzu leicht und nur allzu bereit eine verordnete Gesundheit folgen kann.

Dabei ist die Frage nach unserer Gesundheit nicht nur eine Frage unseres privaten Wohlergehens, sondern schon längst zu einer Frage nach

dem Wohl und Wehe unserer sozialen und geistigen Umwelt geworden, zum Problem unserer gesamten Lebenserhaltung.

Auch hier - das wissen wir - verhalten wir uns nicht richtig: Wir schädigen unsere Umwelt und Mitwelt, vergeuden unser geistiges Kapital und

bald auch unser materielles. Wir stehen bereits an den Grenzen des Wachstums, an einem Punkt, der jeden Tag umzukippen droht.

Was uns heute fehlt, ist Gesundsein im Sinne von Krafthaben zum Menschsein - eine Kraft, die erforderlich wäre, die unsere Lebenserhaltungen und Lebensweisen zu verändern. Statt dessen machen wir uns glauben, daß Gesundheit ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens sein soll, nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.

Und mit dem Anspruch auf das Erhalten einer derartig definierten Gesundheit treten wir dann an das Gesundheitswesen heran. Wir werden geleitet von dem Wahn der Restaurierbarkeit unserer Gesundheit, vergessen dabei jedoch, daß wir unsere Gesundheit fast immer nur selbst bewahren können und daß sie selten allein von außen wiederhergestellt werden kann;

In einer Zeit, in der die Kosten im

Gesundheitswesen durch mehr oder minder unabwendbare Krankheiten schon gewaltig sind und aller Voraussicht nach noch weiter steigen werden (medizinischer Fortschritt -verbessertes Leistungsangebot -steigende Inanspruchnahme medizinischer Leistungen - allgemeine Verteuerung), in einer solchen Zeit muten die Folgekosten einer, derart unvernünftigen Lebensweise ungeheuerlich an, weil sie nicht nur den einzelnen betreffen, sondern die Allgemeinheit belasten.

Schätzungsweise entstehen in der Bundesrepublik Deutschland Folgekosten durch Nikotinmißbrauch in Höhe von 20 Milliarden DM, durch Alkoholmißbrauch und durch falsche Ernährung jeweils im Umfange von 17 Milliarden DM und durch Bewegungsmangel in Höhe von mindestens sieben Milliarden DM. Wenn man die unbezifferten Folgekosten durch Medikamenten- und Drogenmißbrauch, durch unnötigen Streß und durch fahrlässiges Fehlverhalten im Verkehr hinzurechnet, dürfte man sich in jährlichen Größenordnungen zwischen 80 und 100 Milliarden DM bewegen.

Das entspricht einer jährlichen Belastung unserer Volkswirtschaft mit etwa 1300 bis 1700 DM je Kopf der Bevölkerung, die durch falsche Lebenshaltung und falsche Lebensweise und durch den dann an das Gesundheitswesen erhobenen Anspruch, die dadurch entstandenen Schäden wieder zu reparieren, entsteht.

Der Wahn von der Restaurierbarkeit der Gesundheit und der Anspruch des einzelnen Menschen auf

„Wiederinstandsetzung" seiner zu einem erheblichen Teil durch eigenes Verschulden geschädigten Gesundheit unterlegen unserem Gesundheitswesen aus der Sicht der Bevölkerung als den potentiellen Patienten mithin die Zielvorstellungen eines Systems von „Servicestationen" und „Reparaturbetrieben" mit der Aufgabe, die geschädigte Gesundheit zu restaurieren.

Gesundheit ist nicht das gegenüber dem Gesundheitswesen einklagbare Recht eines jeden Menschen auf einen Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens. Und die Zielvorstellungen des Gesundheitswesens können nicht dahin gehen, die nahezu unbegrenzten Ansprüche der Bevölkerung auf Restaurierbarkeit ihrer Gesundheit zu befriedigen.

Gesundheit heißt vielmehr Fähigkeit, Rüstigkeit, Freiheit, heißt Kraft zum menschlichen Leben. Gesundheit ist sich selbst verwirklichendes Sein, bedeutet - was gerade das

Krankwerden so eindrucksvoll demonstriert - die Möglichkeit zur Ausführung aller unserem Wesen entsprechenden Aufgaben, das Tragen von Lasten, das Lösen von Widersprüchen, das Erleiden letztlich des Sterbens. Gesundheit ist letztlich Selbstverwirklichung.

Mit anderen Worten: Gesundheit ist kein permanenter, sich immer neu reproduzierender biologischer Zustand, der uns ein langes Leben garantiert, wie immer wir uns auch verhalten mögen. Gesundheit stellt sich vielmehr dar als eine Art ständiger Erneuerung im biologischen, psychologischen und geistigen Bereich.

Gesundheit ist ein Gleichgewichtszustand, der störbar ist, der uns aber zugleich ständig aufs neue davor bewahrt, den Beeinträchtigungen unserer Gesundheit, die von außen oder von innen an uns herantreten, widerstandslos ausgeliefert zu sein.

Es müßte Zielvorstellung aller der im Dienste der Gesundheit wirkenden Einrichtungen und Personen sein, uns im Rahmen des Gesundheitswesens die persönlichen und sachlichen Hilfen zu geben, diesen Zustand des Fließgleichgewichtes im leiblichen, seelischen und geistigen Bereich zu erreichen.

So gesehen, sind es in Zukunft nicht mehr so sehr die Erfindungen und Entdeckungen, in deren Fortschritt sich Medizin und Medizintechnologie entfalten und in deren "Rahmen sich die Zielvorstellungen für unser Gesundheitswesen htwik- -kein, als vielmehr die Muster der Lebensführung, der Lebensstil unseres Alltags, seine Leitbilder und Werte und damit die Ordnimg unseres Denkens.

Gesundheit ist kein Zustand und kein Besitz, kein Programm und kein Ziel, sondern eher der Gang auf dem Weg durch unser aller Leben. Ge-

sundheit ist eher Sein als Haben. Gesundheit ist ein Pfad, der sich bildet, indem man ihn geht. Von diesem Verständnis über das Gesundsein müssen wir die Zielvorstellungen für unser Gesundheitswesen ableiten, das dann alle diejenigen Leistungen bereitstellen muß, die wir benötigen, um den Weg zu finden, gesund zu sein und gesund zu bleiben.

Mit diesen Zielvorstellungen für das Gesundheitswesen müssen dann auch die Ansprüche harmonisiert werden, die Patienten, Gesundheitsberufe, Finanzträger und Gesellschaft an das Gesundheitswesen stellen. Denn nur unter der Voraussetzung, daß die Zielvorstellungen des Gesundheitswesens mit den Ansprüchen, die an die Gesundheitsleistungen gestellt werden, harmonisiert werden und damit weitgehend dek-kungsgleich sind, kommen wir dazu, daß wir im Gesundheitswesen nicht nur Ziele formulieren und deklarieren, sondern das Ziel des Gesundseins oder Gesunderhaltens auch erreichen - im Dienste des einzelnen Menschen wie auch im Dienste unserer Gesellschaft.

Der Autor ist Vorstandsmitglied des Deutschen Krankenhausinstituts Düsseldorf, und sein Beitrag ist ein Auszug aus dem Referat, das er beim 7. österreichischen Krankenhaustag in Wien im November 1979 hielt.

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