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Gewählt wird: die Opposition

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Die englischen Unterhauswahlen haben der Labour Party einen beachtlichen, von Beobachtern und der Meinungsforschung nicht erwarteten Sieg gebracht.Der Pendelausschlag nach links wird von den kontinentalen Sozialisten als Beweis eines „Trends“ gewertet; die Konservativen wiederum sprechen lieber Von der Hamburger Wahl und einer neuen „politischen Großwetterlage“ in der Welt (wie der CDU-Vorsitzende Kohl am ÖVP-Bundesparteitag in Linz), die als Bewegung nach rechts zu deuten ist. Tatsächlich kann das englische Wahlergebnis allein noch nichts beweisen; in der Analyse mehrerer, voneinander äußerlich nicht abhängiger Wahlregionen aber müßte sich doch verifizieren lassen, ob die Behauptung von „Trends“'ein die letzte Zeit bestimmender Faktor bei Wahlergebnissen war oder nicht.

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Die englischen Unterhauswahlen haben der Labour Party einen beachtlichen, von Beobachtern und der Meinungsforschung nicht erwarteten Sieg gebracht.Der Pendelausschlag nach links wird von den kontinentalen Sozialisten als Beweis eines „Trends“ gewertet; die Konservativen wiederum sprechen lieber Von der Hamburger Wahl und einer neuen „politischen Großwetterlage“ in der Welt (wie der CDU-Vorsitzende Kohl am ÖVP-Bundesparteitag in Linz), die als Bewegung nach rechts zu deuten ist. Tatsächlich kann das englische Wahlergebnis allein noch nichts beweisen; in der Analyse mehrerer, voneinander äußerlich nicht abhängiger Wahlregionen aber müßte sich doch verifizieren lassen, ob die Behauptung von „Trends“'ein die letzte Zeit bestimmender Faktor bei Wahlergebnissen war oder nicht.

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liann mit asm uns zur Verfügung stehenden Datenmaterial etwas ausgesagt werden über übernationale Orientierungen, an die sich das Wahl verhalten in Europa (möglicherweise sogar in der westlich-demokratischen Welt) derzeit bindet? Wie stark ist für innenpolitische Ereignisse „Weltpolitik“ maßgeblich? Wieweit erstrecken sich Trends — etwa nur auf nationale, oder auch auf regionale, ja vielleicht sogar kommunale Wahlen? Inwieweit aber könnten Ereignisse im geistigen, ideologischen Raum maßgeblich sein für breite Massen politische Wahlentscheidungen nach „rechts“ oder „links“ zu treffen1? Es scheint sinnvoll, unsere Fragestellung nur auf die europäische Szene einzugrenzen. Es drängen sich nämlich mehrere Überlegungen in den Vordergrund:

• Die europäische Integration schafft für die Innenpolitik vieler europäischer Staaten echte Probleme. Die Agrarordnung der EWG ist ein einschneidendes Kriterium für die Wahlentscheidunigen bäuerlicher Wähler und auch maßgeblich für Millionen Konsumenten. Und Englands Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft war im abgelaufenen Wahlkampf zwar kein vordergründiges, sehr wohl aber wichtiges innenpolitisches Thema.

• Die Tatsache der europäischen Zusammenarbeit in vielen Bereichen könnte bereits zur Ausformung eines Gefühls der Interdependenz geführt haben. Die Energiekrise etwa mag eine Emotion des „Im-gleichen-Boot-Sitzens“ erzeugt haben; politische Entscheidungen von Regierungen müssen daher im Rahmen solcher integrativer Kommunikation gesehen werden, was sich an den Wahlurnen zweifellos auswirken kann.

• Das Verständnis und Interesse für Außenpolitik ist im Wachsen begriffen. Die Massenmedien, besonders das Fernsehen, haben offensichtlich auch zu einer neuen Gewichtung von Entsche'iidungskrite-rien bei der Beurteilung traditioneller Innen- und Außenpolitik geführt2.

• Die verstärkte Zusammenarbeit glelchgesinnter politischer Parteien — etwa in der Sozialistischen Internationale oder der Union Christlicher Demokraten — führt zu einer Hintansetzung rein nationaler Kriterien und führt zu einem stärker internationalen politischen Bewußtsein, dessen Wert gerade für die Europäische Einigung und die Demokratisierung der Integration einen sehr wesentlichen Beitrag leisten kann3.

Was nun zwischen „rechts“ und „links“ eine neue Dimension in der letzten Zeit erfahren hat, ist die Problemstellung der spezifischen Wachstums- und Energiekrisen in Europa. Stimmt man etwa Gerd Klaus-Kaltenbrunner zu4, daß Konservativismus „Verläßlichkeit“ assoziiert, wenn es um die Bekämpfung eines, allgemeinen Krisengefühls geht, dann haben Rechtsparteien durchwegs eine starke Glaubwürdigkeit bei der Argumentation der Erhaltung volkswirtschaftlicher Werte und privater Rechte. Existiert die Befürchtung, daß Einkommens- oder Vermögensverluste im Gefolge einer Krise auftreten, dann besteht eine natürliche Bereitschaft der Wählermassen, auf Erhaltung bestehender Verhältnisse ausgerichteten Parteien eine Präferenz zu erteilen. In Perioden ständigen, ja sogar hektischen Wirtschaftswachstums genießen auf Innovation abgestellte progressive, zumeist also „linke“ Parteien, eine stärkere Beachtung, weil die Umverteilung und Steuerung des Wertzuwachses zu einem wesentlichen Moment der Politik wird.

Dazu kommt, daß Wachstum stets Strukturen verändert und damit Reformen nötig macht, die wiederum von Linksparteien glaubwürdig artikuliert werden können. In einem solchen Zusammenhang ist auch die Äußerung Bruno Kreiskys vor dem „Club of Rome“ zu verstehen, in der er die Philosophie des Nullwachstums als „neokonservativ“ bezeichnete5.

Zunehmend rückt daher auch berechtigterweise jene Frage in den Mittelpunkt der internationalen Politik, welche Instrumentarien die politischen Links- und Rechtsbewegungen einsetzen können und wollen, um eine Bewältigung der ökologischen Krise, der Energieverknappung und der Bevölkerungs-vermehrung zu sichern. Hier wird zweifellos in der bereits längst übernationalen Auseinandersetzung die parteipolitische Formierung erfolgen — die letztlich bereits in England deutlich zum Ausdruck kam und auch das volkswirtschaftliche Zentralproblem, die Inflation, in allen Ländern Europas betrifft.

Diese Fragenkreise sind es aber auch, die nicht allein die Dimension der Außenpolitik berühren, sondern nach „innen“ und „unten“ (in Rich tung auf Regional-, ja Kommunalpolitik) wirken. Tatsache ist, daß Umwelt- und Energieprobleme gerade ja die kleinen Einheiten betreffen und zunehmend auf lokaler Ebene aktualisiert werden. Außen-unid Innenpolitik sind nicht mehr abzugrenzen; wir fügen an, daß daher auch regionale, lokale Politik nicht def mierbar ist. Die Interdependenz ist offensichtlich, die Integration der Probleme nicht mehr zu übersehen.

Die politischen Bewegungen in Europa haben daher auch angesichts der wachsenden Gleichartigkeit der Problemstellungen die große Chance, aus den nationalen Rollen in übernationale zu wachsen. Die Labour Party sieht sich der Frage der Nationalisierung von Energiequellen in der Nordsee ebenso gegenübergestellt wie die italienischen Linksparteien der Problematik der internationalen Konzerne. Die Umstellung von Öl auf Kohle berührt im Ruhrgebiet lokale, in Frankreich angesichts fraglicher langfristiger Ölversorgung nationale Grundinteressen. Umweltschutz hat für die politischen Parteien im Fremdenverkehrsland Südtirol einen bedeutenden Stellenwert — ebenso wie für die schwedischen Fischgewässer in der Ostsee. Das aber heißt: Bei gleichen oder ähnlichen Problemen reduzieren sich die Lösungsmöglichkeiten auf abgrenzbare Alternativen, die — politisch artikuliert — von den Wählerschaften tendenziell gleichartig bewertet werden. Trends in Europa erklären sich so nicht allein aus politischen „Grundströmungen“, sondern aus der Beschränkung der Lösunigsmöglichkeiten auf wenige definierbare Varianten.

Die empirischen Methoden zur Erfassung von Trends haben ihre natürlichen Grenzen in der Tatsache, daß Wahlen in Europa nicht immer eindeutig zwischen „rechts“ und „links“ vor sich gehen. Vor allem sind es die Parteien der Liberalen, der „Reformateurs“ usw., die Alter-nativisierungen komplizieren. Auch spielen das System des Wahlrechts, das Ausmaß der Wählermobilität und politische Persönlichkeiten eine starke Rolle. Das erstaunliche aber ist, daß sich dennoch gewisse Gemeinsamkeiten dann erkennen lassen, wenn man nicht nur nationale, sondern auch lokale Wahlen einbezieht.

Das vergangene Jahr 1973 und auch schon 1974 haben mehrere Wahlen in Europa gebracht. Wir greifen in der Folge auf einige zurück, die uns aus verschiedenen Gründen interessante Trend-Aufschlüsse geben können. Es sind dies eine nationale ParQamentswahl in einer europäischen Großmacht (Frankreich), eine nationale in einem Kleinstaat (Schweden), eine regionale (in Südtirol), eine kommunale (am Rand des deutschen Ruhrgebiets) und jene in Hamburg sowie schließlich auch das jüngste britische Ergebnis.

Auf den ersten Blick scheint sich kein kiarer Trend abzuzeichnen. Die Linksparteien gewannen in Frank-reieh-und Großbritannien; aber auch in Südtirol, wo der Anteil der Rechtsparteien stark dominant ist, gelang ihnen ein starker Einbruch. Das Ausmaß dieser Linksgewinne ist nicht einheitlich, ebenso nicht das der Reohtsverluste. In Schweden und in Ost-Westfalen erfolgten Verluste der Linken, deren Ausmaß allerdings erheblich schwächer war als die Verluste der Rechten in den anderen Wahlregionen. Nur in Hamburg gab es einen echten Rechits-rutsch.

Dennoch ist ein Trend deutlich und signifikant: in allen fünf Vergleichsregionen, so unterschiedlich ihre Struktur und Größe auch ist, verlor jeweils die an der Regierung befindliche Parteiengruppe. In Schweden, Hamburg und in Westfalen regierten und dominierten sozialdemokratische Politiker. In Frankreich und Großbritannien waren konservative Regierungen im Amt. Und auch in Südtirol existiert seit Jahrzehnten eine absolute Mehrheit der Südtiroler Volkspartei im Landtag; aber auch die Democri-stiani (die hier „rechts“ zugezählt wurden) mußten geringe Verluste hinnehmen.

Europas Wähler entscheiden zunehmend gegen ihre Regierungen; sie halten diese offenbar für ungeeignet, mit den aktuellen Krisen fertig zu werden — unabhängig von der politischen Färbung der jeweiligen Regierung. Die Zahl der „Switcher“ ist — was alle Daten übereinstimmend erkennen lassen — überall im Wachsen begriffen.

Wenn man eine Quantifizierung der jeweiligen Verschiebungen vornimmt, dann zeigt sich, daß es offenbar Linksparteien derzeit etwas leichter haben, Rechtsregierungen Stimmen abzunehmen als umgekehrt. Offenbar hängt dies mit der besseren' Artikulierbarkeit von Unmut zusammen, den oppositionelle Linksparteien oppositionellen Rechtsparteien voraushaben.

Der Trend in Europa geht aber weder als Pendel nach rechts noch nach links — er geht offenbar zur alternativen Opposition; gleichgültig, wie sie politisch formiert ist.

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