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Gewalt herrscht immer und überall

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Die Diskussionen über die Schilderung von Gewalt im Fernsehen, die angeblich zur Nachahmung führt, wollen nicht aufhören und werden nicht aufhören, solange das Fernsehen nicht durch ein noch mehr verbreitetes Medium ersetzt wird.

Professor James B. Given von der Universität Michigan hat englische Gerichtsakten aus dem 13. Jahrhundert durchstudiert und festgestellt, daß es damals viel mehr Mord und Totschlag gab als heute: 23 von 100.000 Einwohnern wurden damals in England umgebracht (das heißt, von so vielen wußten die Gerichte), heute in den USA sind es 9,7 pro 100.000.

Könnte man die Antike statistisch auswerten, würden die Zahlen wohl noch schlimmer sein. Auch Neandertaler und andere Urmenschen haben sich gegenseitig munter totgeschlagen. Die schlimmste Kriminalstatistik gab es zu Kains Zeiten, der auf einen Schlag ein Viertel der Menschheit ausgelöscht hat. Und das alles ohne Fernsehen.

Ich sehe gern Krimis und Western und habe auch manchmal hinterher Mordgelüste, ausschließlich aber dem Autor, dem Regisseur oder den Programm-Machern gegenüber. Diese Gelüste habe ich übrigens noch öfters nach gänzlich gewaltlosen Fernsehshows.

Ich kann mir nicht vorstellen - und habe auch nie von so einem Fall gehört -, daß jemand sich einen „Tatort” ansieht, dann sein Bier zu Ende trinkt, sich vom Schaukelstuhl erhebt und prompt seine Frau oder den Kassierer seiner Bank umlegt. Keiner von uns, liebe Freunde, hatte und hätte es getan - warum muten wir das anderen zu?

Es haben zwar schon Gewalttäter vor Gericht behauptet, sie hätten sich nach dem Beispiel vom Fernsehen gerichtet - ihnen ging es aber um mildernde Umstände, sie hatten wohl keine schwere Kindheit vorzuweisen. Und sollte es wirklich passiert sein, daß jemand nach Bildschirmvorbild einen seiner Nächsten in den Luftschacht warf, dann wirkte das Fernsehen wie ein Knoten im Taschentuch, der einen erinnert, daß man noch etwas Wichtiges zu erledigen hat.

Das Fernsehen soll besonders die

Kinder zur Brutalität verführen, dieja bekanntlich gern Helden nachahmen. Ich weiß nicht - zu meiner Zeit gab es kein Fernsehen, unsere Spiele waren aber ganz schön brutal, und die Nachbarstraßen waren für jeden Jungen Zonen echter Gefahr. Wir sahen freilich Western im Kino, auch die superbrutalen Grotesken von Walt Disney, lasen Tom-Mix- und Nick-Carter-Hefte und Edgar Wallace.

Noch früher gab es Gruseltheater, Räuber- und patriotische Geschichtsromane, Moritatensänger und Märchenerzähler, Goethe - dessen Werther eine Welle von Selbstmorden auslöste-, Ritterballaden, öffentliche Hinrichtungen (als Nachrichten- und Unterhaltungsshow auch eine Art Kunstdarbietung), Chroniken, die Bibel, in der Gewaltszenen bei weitem nicht immer mit Abscheu geschildert werden, und Schlachtenbilder in den Höhlen der Höhlenmenschen.

Die Gewalt war in der Kunst immer in, weil es sie im Leben gab, nicht umgekehrt. Früher haben sich die Gewalttäter nur nicht auf das Beispiel der Kunst berufen, weil sie nicht so gebildet waren. Und weil es immer genüg Beispiele dafür gab, daß man auch ohne Beispiel mordet. Meiner Meinung nach suchen die Menschen in den Kunstbildern der Gewalt die Identifizierung mit der Gewalt - nicht im Sinne der Ge-walttätigkeit, sondern der Macht. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, ihnen dieses künstliche Machtgefühl zu geben, weil das Gefühl der Ohnmacht die Sehnsucht nach Gewalt gebiert. Wie auch das Gefühl der - reellen - Macht, die die Verwirklichung dieser Sehnsüchte, und das en gros, ermöglicht.

Komisch: Die Kunst brachte immer auch idyllische Bilder der Tugend. Das Fernsehen tut es auch, zum Beispiel in Familienserien. Das sozialistische Fernsehen schilderte gern Helden der Arbeit. Und es bestand noch nie die Gefahr, daß sie jemand nachahmt, selbst bei Kindern nicht.

Die Kunst - ob gute oder schlechte - ist wohl doch nicht so stark, wie man es glauben zu müssen glaubt.

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