6806203-1972_08_14.jpg
Digital In Arbeit

Gewandelte Wissenschaft

Werbung
Werbung
Werbung

Ein Physiker und ein Philosoph dokumentieren in Einzelaufsätzen und Reden den ungeheuren Wandel, der insbesondere während der letzten beiden Generationen in der Wissenschaft eingetreten ist. In der öffentlichen Meinung denkt man in diesem Zusammenhang vor allem an die enorme Steigerung der Zahl neuer Erkenntnisse in einem Jahrzehnt als vorher seit Urzeiten. Wichtiger als diese quantitative Änderung des Standes der Wissenschaft ist aber der Sturz jenes wissenschaftlichen Absolutismus, der das Erbe des 19. Jahrhunderts ist, noch ist. Das grenzenlose Vertrauen in die Erkenntnis der Wissenschaft und deren Allgemeingültigkeit kam vor allem den Anschauungen Karl Marx' und allen Denkweisen im Anschluß an Marx zugute. Es entstand die verbreitete Annahme vom unerbittlichen Ablauf der Geschichte und vom „wissenschaftlichen“ Planen der Gesellschaft, die heute noch das Denken und die Aktionen von hunder-ten Millionen Menschen leitet.

In den grundlegenden Aufsatz über Albert Einstein stellt Heisenberg einleitend fest, daß Einstein „die Möglichkeiten seiner Zeit überschätzt“ hat. In der Quantentheorie stellt es sich heraus, daß Materie Raum und Zeit nicht so feste, vom Menschen unabhängige Realitäten waren, wie Einstein in Fortführung der Lehren des 19. Jahrhunderts annahm. Als Einstein die aus der Quantenmechanik geschöpfte Einsicht in den Indeterminismus des Zufalls mit der intuitiven Entgegnung: Der Herrgott würfelt nicht, beiseite schieben wollte, war die Wende da. Bis zum letzten Aufsatz des Buches — „Abschluß der Physik?“ — folgt auch der Laie, gefesselt durch Sprache und Klarheit der Darstellung des Autors, den Betrachtungen zu dem Punkt, an dem Heisenberg die folgenschwere Schlußfolgerung des Ganzen zur Erwägung stellt: Ob es sich bei einem künftigen weiteren Vordringen der Physik um einen Fortschritt dieser Wissenschaft handeln kann oder um einen der Informationstheorie, der Philosophie, oder ob sich die Physik in die Biologie hinein entwickelt beziehungsweise ob sich die Biologie in immer höherem Maße physikalischer Problemstellungen und Methoden bedient.

Damit gerät die Philosophie — nach dem positivistischen Wissenschaftsbegriff im Anschluß an die Theologie aus dem Kreis der anerkannten Wissenschaften zum Teil bereits ausgeklammert — in eine neue Relevanz der Betrachtung. Landmann, Assistent bei Karl Jaspers, jetzt Ordinarius für Philosophie an der Freien Universität Berlin, reflektiert auf einen „unfertigen Kosmos“. Er denkt vom Singulären zum Besonderen und er geht von jenem bisherigen philosophischen Glauben ab, der aus einem einzigen Grund und zufolge eines einzigen Prinzips seine Ableitungen trifft. Ergreifend die Darstellung, wie sich der zum Agnostiker gewordene philosophisch Gläubige angesichts der erschütternden Ereignisse seines Zeitalters der jüdischen religiösen Tradition seiner Jugend erinnert. Einst Gelebtes, bisher leichtwiegend — so schreibt er —, kann sich in einer „neuen Kurve“ als gewichtig erweisen. Und: Der Geist wächst nicht stetig, sondern ... durch Rückgriff auf früheren Stufen und Entwürfe. Was zeitweilig sicher gegründete Wirklichkeit schien, enthüllt sich als Trug und Vordergrund. Landmann bleibt beim „phänomenologischen Verständnis“ des Religiösen stehen. Nicht diese Grenze will er überschreiten; ihm geht es um die Verteidigung der Grenzsituation des Einzelmenschen schon veralteten Denkmodelle des Progresses von gestern aufzuklauben.

SCHRITTE ÜBER DIE GRENZE. Von Werner Heisenberg. Gesammelte Reden und Aufsätze. R. Piper & Co., München 1971. 313 Seiten.

DAS ENDE DES INDIVIDUALISMUS. Von Michael Landmann. Anthropologische Skizzen. Ernst-Klett-Verlag, Stuttgart 1971. 276 Seiten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung