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Gewichte, richtige und falsche

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Der Roman „Das falsche Gewicht“ von Joseph Roth erzählt die Geschichte des gewesenen k. u. k. Unteroffiziers Anselm Eibenschütz, der seinen Dienst in der Armee quittiert hat, weil seine Frau es so wollte. (Er wird es ihr nie verzeihen.) Als Eichmeister an die nordöstliche Ecke des Reiches, ins hinterste Galizien, verschlagen, des Halts, des Lebensraumes, seiner Lebensluft in der Armee beraubt, tritt nach geringem Widerstand all seine innerste (innerösterreichische) Entschlußlosigkeit und sentimentale Ratlosigkeit zutage. Der buntscheckigen, urtümlichen Lebenskraft des Ostens hat er nichts entgegenzusetzen, er gleitet unaufhaltsam abwärts, er verkommt. Ein größerer unter den vielen kleinen Gaunern ringsum erschlägt ihn schließlich mit einem Stein. Zu dem klinisch bereits Toten spricht die Stimme Gottes: „Alle deine Gewichte sind falsch und alle sind dennoch richtig. Wir glauben, daß alle deine Gewichte richtig sind. Ich bin der große Eichmeister.“

Der Roman „Das falsche Gewicht“ von Joseph Roth lourde von der Intertel verfilmt, das Buch schrieben Fritz Hochwälder und Bernhard Wicki. Bernhard Wicki führte auch die Regie. Seinem eisernen Willen gehorsam, spielten Österreicher, Ungarn, Juden, Deutsche, Tschechen, Jugoslawen. Was keinem bisher noch gelang, gelang ihm: darstellerisch erstand die Stimmung, erstand photographisch genau, verdichtet wie in der Dichtung selbst, die Welt des Joseph Roth. Viele Gestalten, vor allem auch die Randfiguren, entsprechen der ursprünglichen Vision, identifizieren sich mit der Erinnerung an jene, denen Roth in seiner Kindheit begegnet sein mag. Da ist die „Blume Singer“ der Rosa Markus. Blume und ihr Gatte Mendel kommen geradewegs aus dem Roman ,Jiiob“, der allerdings jenseits der Reichsgrenzen anhebt und in Amerika endet. Da ist der undurchsichtige „Novak“ des Istvän Iglödy. Da ist die ungeheure Szene der „Witwe Czaczkes“, ein turbulenter Höhepunkt auch im Original, dargestellt von der grandiosen Mdnyi Kiss. (Sie starb bald nach den Dreharbeiten.) Da ist der gutmütige mährische Wachtmeister ,,Slama“ des Johannes Schaaf. Mit Slamas Gattin hatte, wir erinnern uns, im „Radetzkymarsch“ der junge Trotta ein Verhältnis; nun ist die Frau gestorben, und Slama, weise und über sein Leben hinausgewachsen, ließ sich nach Galizien versetzen. Da tritt uns die Zigeunerin „Euphemia“, wie Roth sie kannte, in Gestalt der schönen Tschechin Evelyne Opela entgegen, und da weiß vor allen anderen Kurt Sowinetz als „Kap-turak“ um die Schläue und die heimlichen Ängste eines von Natur aus tierhaft und fast unschuldig schlechten Kerls. (Vielleicht ist es die bisher größte Rolle dieses großen Schauspielers.) Andere, die sich optisch nicht mit Roths Gestalten decken konnten, ließen neue Figuren erstehen, die — so Qualtinger — nicht von Roth sind, aber von Roth sein könnten.

Da ist der stürmische Augenblick, in welchem das Eis des Stromes birst, mitten in der Nacht, weil der Frühling kommen wird. Da ist die Melodie, da sind die Farben des Ostens. Die Gewichte der Darstellung sind richtig. Wo ist das unvermeidliche, das falsche Gewicht?

Wir kennen Vorkriegsgalizien aus Schilderungen und von zahllosen Photographien. Galizien war trostlos, geheimnisvoll, großartig, erschreckend. Aber es zerbröckelte nicht: Es war, ganz im Gegenteil, von übergroßer Lebendigkeit. Doch mußte man der offiziös gewünschten (und geglaubten) Version Genüge tun, derzu-folge die letzten Jahrzehnte des Donaureiches mit ihrem beispiellosen wirtschaftlichen, sozialen und vor allem kulturellen Aufschwung eine Zeit des Verfalls gewesen wären, und dazu bedurfte es der adäquaten Kulisse. Die Gestalter des Films fuhren von Wien ostwärts. Wenige Kilometer hinter dem Eisernen Vorhang fanden sie, was sie suchten: zerbröselnde Fassaden, verlotterte Innenräume, Verfall. Was für ein Zeugnis haben sie damit, ohne es zu ahnen, dieser, unserer Zeit ausgestellt!

Soviel über das f als che Gewicht. Das letzte, schwerste Gewicht allerdings fehlte, es mußte fehlen. Das Gewicht des Mitleids, das Roth allen seinen Geschöpfen, auch dem ehemaligen Unteroffizier Eibenschütz, ins tiefste Herz gepflanzt hat. Und das Gewicht seiner Liebe zu dem verschwundenen, völkerüberspannenden Reich und der kaiserlichen Armee, die in Wirklichkeit erst 1939 zu Grabe sank, als Roth in Paria die Augen schloß. Seine prophetischen Augen, die ihm zeitlebens so oft übergegangen waren vom Neunziggrädigen und von der unstillbaren Sehnsucht nach einer Heimat, die es nicht mehr gab.

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