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„Gibt es ein Leben vor dem Tode?“

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„Is there a life before death - Gibt es ein Leben vor dem Tode?“ Diese verzweifelte Frage, an die Fassade eines der vielen ausgebrannten Häuser in Belfast geschmiert, die deren Bewohner nach Ausbruch der Gewalttätigkeiten meistens fluchtartig verlassen mußten, sagt mehr als all die unzähligen Parolen zusammen, die man in Nordirland an fast jeder Hauswand sieht. Parolen, die den Haß gegen Katholiken oder Protestanten schüren sollen. Die Frage nach dem Leben vor dem Tode hat kein politischer Extremist, sondern einer der vielen verzweifelten Iren an sich selbst und an alle Menschen in Nordirland gerichtet. Menschen, die nun schon seit fast zehn Jahren mit einem blutigen Bürgerkrieg leben müssen.

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„Is there a life before death - Gibt es ein Leben vor dem Tode?“ Diese verzweifelte Frage, an die Fassade eines der vielen ausgebrannten Häuser in Belfast geschmiert, die deren Bewohner nach Ausbruch der Gewalttätigkeiten meistens fluchtartig verlassen mußten, sagt mehr als all die unzähligen Parolen zusammen, die man in Nordirland an fast jeder Hauswand sieht. Parolen, die den Haß gegen Katholiken oder Protestanten schüren sollen. Die Frage nach dem Leben vor dem Tode hat kein politischer Extremist, sondern einer der vielen verzweifelten Iren an sich selbst und an alle Menschen in Nordirland gerichtet. Menschen, die nun schon seit fast zehn Jahren mit einem blutigen Bürgerkrieg leben müssen.

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Schon die scharfen Durchsuchungen am Londoner Flughafen „Heathrow“ lassen ahnen, wohin die Reise geht. „Politischer Fanatismus kennt keine Grenzen“, erklärt der Sicherheitsbeamte zu einer Mutter, die sich wundert, daß auch ihr kleiner Sohn die ganze „Durchsuchungsprozedur“ über sich ergehen lassen muß. Aber kein Passagier nach Belfast wird davon verschont. Schließlich rechnet der Sicherheitsbeamte mit allem. Auch damit, daß nordirische Extremisten an diesem Buben eine Bombe oder Waffe in das Flugzeug schmuggeln könnten!

Noch etwas fällt bei der Abfertigung vor dem Flug nach Belfast auf: Die kurzgeschorenen, kräftigen jungen Männer, die sich nicht in die Menschenschlangen einreihen müssen, sondern zielstrebig vorbeieilen und bei den Kontrollstellen nur kurz ihren Dienstausweis vorzeigen. Wenige Stunden später erkenne ich einen von diesen eigentlich noch Halbwüchsigen in Derry (Londonderry) wieder: Er steckt in einer britischen Uniform und kauert mit einer Schnellfeuerwaffe in den Händen hinter den Mauern eines völlig zerstörten Hauses. In seinem Gesicht spiegeln sich Furcht und Aufregung zugleich - ein Opfer von Kriegsspielereien, über deren-blutiger Wirklichkeit er sich wahrscheinlich gar nicht richtig bewußt ist.

Das menschliche Leid, das die 50jäh-rige Unterdrückung der Katholiken und der 10jährige Aufruhr verursacht haben, wird in jedem Winkel der Stadt Derry spürbar; zu tiefe Wunden haben die Gewalttätigkeiten zwischen Katholiken und Protestanten, zwischen politischen Extremisten und den Ordnungskräften auch in das äußere Erscheinungsbild der Stadt geschlagen: ausgebombte Ruinen, fast keine Fensterscheibe, die nicht einen Sprung aufweist, gelegentlich auch Einschußlöcher von Maschinengewehrgarben in den Fassaden.

Hier, wo man sich erbitterte und haßerfüllte Menschen erwartet, trifft man paradoxerweise warmherzige, großzügige und vergnügte Leute. Es sind zumeist Katholiken, denn Derry ist die größte katholische Stadt in Ulster. Nach jahrhundertelanger Herrschaft' der protestantischen Minderheit wurde ihnen die Tür ins Rathaus geöffnet. Die Katholiken zeigten sich großmütig nach diesem Triumph und vergaßen die Rachegefühle gegen die einstigen Unterdrücker. Hier - im Gegensatz zu Belfast - ist die Luft nicht ranzig von der sektiererischen Feindseligkeit. Denn für die Katholiken von Derry gibt es jetzt nur noch einen Feind, der aus der Stadt verschwinden muß: die britische Armee.

Freilich, das Bild der Zerstörung bleibt. Und fast nahtlos fügt sich dazu das Bild der Armut und des Elends. Bettelnde Kinder, ungewaschen, zerlumpt und armselig, halten nach jedem Fremden Ausschau und strecken ihre kleinen Hände nach ein paar Pennies aus. Man fühlt sich üi die Zeiten Oliver Twists zurückversetzt.

Aber Derry war immer arm. Das Land rund um die Stadt war nicht so fruchtbar wie in den anderen „coun-ties“, und die industrielle Entwicklung wurde vom Stormont immer vernachlässigt, eben weü Derry zum Großteil katholisch war! Und da die in Derry regierende Minderheit sich nie um ihre katholischen Mitbürger kümmerte und Arbeitsplätze grundsätzlich nur an Protestanten vergab, ergab sich in Derry die höchste Arbeitslosenrate von ganz Irland.

„Diese Marionetten müssen raus“, erklärt mir ein 17jähriger Katholik als ich ihn frage, warum er mit Steinen auf britische Soldaten wirft. Er ist der älteste von einem halben Dutzend Jugendlicher, die in eine Straßenschlacht mit der britischen Armee und der Polizei verwickelt sind. Ich traue zuerst meinen Augen nicht, als ich diese Halbwüchsigen sehe, die auf offener Straße einem britischen Panzerwagen entgegenrennen und mit voller Wucht Pflastersteine, Flaschen und allerlei andere Wurfgeschosse gegen die Soldaten schleudern, die sich dahinter verschanzt haben. Und diese Szenen lassen die Hoffnung auf eine Befriedung Nordirlands dahinschmelzen: Denn ist eine Generation, die mit der Gewalt aufwächst, eines Tages fähig, ohne Gewalt zu leben?

Michael Longley, ein bekannter nordirischer Dichter, beschreibt die Straßenkämpfe von Derry als eine Art „Fußballspiel“. Dort, wo er lebt, haben die Straßenschlachten keinen „Fußballspiel-Charakter“: in Belfast! Die nordirische Hauptstadt, einst eine blühende Handelsstadt, vermittelt nach zehn Jahren Bürgerkrieg den Eindruck einer Lagerhalle von Pulverfässern, in der es immer wieder zu Explosionen kommt.

Öffentliches Leben scheint in Belfast keines zu existieren. In jeder wichtigen Straße befinden sich Kontrollpunkte der Armee und Polizei, Barrikaden trennen protestantische und katholische Bezirke, jedes öffentliche Gebäude in der Innenstadt ist mit hohen Stacheldrahtzäunen umgeben und von Soldaten bewacht. Eine Stadt im Belagerungszustand, die untertags von Armee und Polizei kontrolliert, in der Nacht von paramilitärischen Banden terrorisiert wird!

In Belfast, wo die Protestanten mehr als zwei Drittel der Einwohner ausmachen und diese Mehrheit gegen die katholische Minderheit brutal ausnützen, wie sie es immer getan haben, zeichnet sich im Gegensatz zu Derry keine Lösung ab. Zwar haben die Massenmedien in aller Welt in jüngster Zeit verkündet - „In Nordirland ist es wieder ruhiger geworden“ -, aber in Belfast ist davon nicht allzuviel zu bemerken. Denn hier tobt der Bürgerkrieg weiter, explodieren Bomben in Geschäften und „Pubs“, werden Menschen ermordet oder von Extremisten mit bestialischen Methoden zu Krüppeln gemacht.

Auf 2000 Todesopfer wird die Zahl der im Bürgerkrieg umgekommenen Menschen geschätzt. „Amnesty International“ spricht in einem Bericht über Nordirland von 14.000 Verletzten seit dem Beginn des gegenwärtigen Aufruhrs.

Die IRA und Überale Katholiken sehen nur zwei Möglichkeiten, um zu einer Lösung des Konfliktes zu kommen: den totalen Rückzug der Briten und die Heranbildung eines nichtsektiererischen Bewußtseins unter der Masse der nordirischen Bevölkerung. Von einer nichtsektiererischen Haltung ist in Nordirland heutzutage freilich weit und breit nichts in Sicht. Aber ein britischer Rückzug ist doch nicht unwahrscheinlich. Eine Leserumfrage einer großen englischen Tageszeitung hat jedenfalls ergeben, daß sechs von sieben Briten einen Rückzug aus Nordirland befürworten würden!

Freilich könnte ein solcher Rückzug nicht sofort erfolgen, weil die Briten keine erkennbaren Lösungsvorschläge für Nordirland entwickelt haben. Deshalb haben auch die protestantischen Unionisten nicht über Zukunftspläne nachgedacht. Sowohl Katholiken als auch Protestanten sehen einem Rückzug der Briten mit Schrecken entgegen: Ihm könnten religiöse“Massaker, Besetzung durch die Armee der irischen Republik und ein noch viel grausamerer Bürgerkrieg folgen!

Conor O'Cleary, Nordirland-Experte der angesehenen Dubliner Tageszeitung „Irish Times“, sieht wenig Chancen für eine Lösung in nächster Zukunft: „Die Führer der einzelnen Gruppen sind gerade erst darangegangen, neue Perspektiven ins Auge zu fassen. Aber nichts ist über Gespräche hinausgegangen. Und die protestantischen Massen im Norden widersetzen sich noch immer jeglicher Veränderung!“

Fürwahr, das sind keine guten Aussichten für Nordirland. Und so wird es für viele Nordiren weiterhin kein Leben vor dem Tode geben!

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