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Gibt es eine österreichische Literatur?

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Im November dieses Jahres hielten Martin Esslin (BBC, London), Werner Welzig (Germanistik, Wien), Wolfgang Greisen-egger (Theaterwissenschaft, Wien) und Zoran Konstantino-vic (Vergleichende Literaturwissenschaft, Innsbruck) an den Universitäten Oslo, Stockholm und Helsinki Rahmenvorträge über Literatur und Theater in Österreich. Im Anschluß daran las jeweils Gert F. Jonke aus seinem Buch „Schule der Geläufigkeit“. Die folgenden Aufzeichnungen eines der Teilnehmer an diesen Veranstaltungen versuchen einige Gedankengänge der sehr lebhaften Diskussion festzuhalten.

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Im November dieses Jahres hielten Martin Esslin (BBC, London), Werner Welzig (Germanistik, Wien), Wolfgang Greisen-egger (Theaterwissenschaft, Wien) und Zoran Konstantino-vic (Vergleichende Literaturwissenschaft, Innsbruck) an den Universitäten Oslo, Stockholm und Helsinki Rahmenvorträge über Literatur und Theater in Österreich. Im Anschluß daran las jeweils Gert F. Jonke aus seinem Buch „Schule der Geläufigkeit“. Die folgenden Aufzeichnungen eines der Teilnehmer an diesen Veranstaltungen versuchen einige Gedankengänge der sehr lebhaften Diskussion festzuhalten.

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Es ist keineswegs schwer, im Ausland die These vom Eigenwert der österreichischen Kultur zu vertreten, denn niemand bezweifelt das Bestehen eines solchen Eigenwertes. Bedeutend schwieriger wird es jedoch, wenn es darum geht, das mit Österreich verbundene Bild von jenen klischeehaften, fast ausschließlich an Vergangenes und Oberflächliches gebundenen Vorstellungen zu lösen und das österreichische als Phänomen darzustellen, das sich auch aus der Gegenwart heraus ununterbrochen weiterentwickelt.

Vielleicht liegt es manchmal sogar auch an Österreich selbst, daß das Gegenwärtige derart zugunsten des Vergangenen zurückgestellt wird. Im Amphitheater einer nordeuropäischen Universität erwarte ich die Lesung eines Vortragskünstlers, eines angesehenen Schauspielers. Mit einer wirklich äußerst angenehmen sonoren Stimme, Hochdeutsch mit österreichischer Färbung, echtes Burgtheaterdeutsch, beginnt er darzubieten: Kaiser Franz Josephs Proklamation „An meine Völker“, von Wildgans aus der „Rede über Österreich“, von Trakl das Gedicht „Unterwegs“. Das Programm dauert insgesamt über eine Stunde, und man ist allgemein sehr angetan, ich auch. Besonders gerührt jedoch sind jene älteren Menschen aus dem Publikum, denen man eine emotionelle Verbundenheit mit Wien schon gleich beim Betreten des Saales ansieht.

Aber wird mit diesem Hineinversetzen in einen Zustand des stimmungsvollen Gerührtseins das österreichische auch voll vermittelt? Besteht nicht auf diese Weise die Gefahr, daß zum Beispiel der Begriff „österreichische Literatur“ zusammen mit lexikalischen Definitionen wie „Frauenliteratur: Literatur von Frauen verfaßt oder für Frauen geschrieben“ oder für „Arbeiterdichtung: Dichtung, von Arbeitern stammend oder die Arbeitswelt darstellend“ auf die gleiche Ebene geschoben wird: „österreichische Literatur: von Österreichern und für Österreicher oder mit Österreich verbundene Menschen verfaßt“? Denn diese Literatur reicht nun schon seit mehr als zwei Jahrzehnten in faszinierender Weise weit über diesen Zielkreis hinaus, ohne sich dabei im geringsten um den Mythos des Vergangenen zu kümmern.

Auch jenes Positivum der Vergangenheit, von dem Wolfgang Kraus mit Recht behauptet, daß es auch heute noch in einer vielgliedrigen politischen Realität als imaginärer Raum existiert, muß nicht in der Darstellung des Vergangenen zum Ausdruck kommen. Es ist zweifellos eine gewaltige Verklärung der historischen Wahrheit, wenn Wildgans meint, daß alle übrigen Völker des einstigen Staatsgebildes so überaus glücklich gewesen wären, die Deutschen als Führervolk zu besitzen. Das Harmonische dürfte eher dort zu suchen sein, wo es sich unbewußt, ohne Führer und Geführte, als Symbiose verwirklichen konnte.

Der eigenen Art aber, entspricht ihr auch eine eigene Sprache? In dieser Hinsicht hat sich im Ausland zweifellos ein Wandel in den Auffassungen vollzogen. Dadurch nämlich, daß die Wissenschaft in den fünfziger Jahren den Blick auch auf das alltägliche ' umgangssprachliche Deutsch der

sogenannten Randgebiete lenkte, hat sie den Weg zur Gleichberechtigung des österreichischen und des Schweizerischen mit dem Binnendeutsch geebnet. Die Spannung zwischen Hochdeutsch und Provinzdeutsch entschärft sich zusehends durch die deutsche Einheitssprache, und man kann nun mit vollem Recht immer mehr auf den sogenannten Austriazismen beharren. Dies wird auch vom Ausland akzeptiert.

Das Besondere der österreichischen Sprachvariante erschöpft sich demzufolge weder im Mundartlichen noch im überregionalen Umgangssprachlichen oder in der Nuancierung des Hochdeutschen, sondern es vergegenwärtigt zudem noch eine vierte Dimension, jene eigenartige Sensibilität nämlich des österreichischen Autors für die Sprache überhaupt, die sich als umfassendes Merkmal eines Bemühens äußert, zu immer tieferen Ausdrucksmöglichkeiten vorzudringen. Von Nestroy führt in dieser Hinsicht eine unmittelbare Verbindung zu Wittgenstein und von Wittgenstein zu den gegenwärtigen Autoren.

Das österreichische der österreichischen Literatur scheint daher nicht in einer spezifisch österreichischen Thematik zu liegen, mag auch die junge Generation der Autoren die Handlung ihrer Werke gleichfalls im österreichischen Raum und in der österreichischen Landschaft angesiedelt haben, sondern dieses Spezi-fikum ist gerade in den Sphären der Sprache zu suchen. Er beruht im Denken über die Sprache, das zugleich wiederum ein eigenes Denken verrät. Das ist für den ausländischen Beobachter, der die deutsche Sprache als Gesamtheit vor sich sieht, nicht so leicht faßbar. Am ehesten würde es sich durch die Tatsache erklären lassen, daß der österreichische Autor mit einer solchen Fähigkeit des Sprachvermögens und des Sprachempfindens schon in der Vergangenheit so viel zu bedeutenden Stilwandlungen in der Weltliteratur beigetragen hat.

Hermann Bahr durchlief etliche stilistische Metamorphosen, Schnitzler ist der eigentliche Entdecker des inneren Monologs und Kafka der Begründer dessen, was man in der Literaturgeschichte „visionäre Sachlichkeit“, „magischer Realismus“ oder „exakte Phantastik“ zu nennen pflegt. Rilke wiederum hat das existentielle Ausgesetztsein des Menschen schon in seinen Duineser Elegien verkündet, Jahrzehnte bevor der Existentialismus als philosophische Anschauung zu einer der bestimmenden Kräfte der neuesten Literatur wurde.

Dieser Hang zum Ausloten der Sprache hat sich in der Gegenwart eher noch verstärkt und vor allem völlig konkretisiert. Als stilwirkend ist heute schon das sprachliche Experiment der Wiener Gruppe zu bezeichnen, und die gleiche Funktion übt auch Handke aus. Aber auch einige der allerjüngsten Autoren scheinen schon zu solcher Stilwirksamkeit zu gelangen.

Mehr konkrete historische Stütze bietet sich dem Versuch, die Eigenart des österreichischen Theaters zu erklären. Dieses hat nämlich eine völlig andere Entwicklung durchlaufen als das Theater im übrigen deutschen Sprachraum. Für Lessing war das

Theater ein Bedürfnis, um ein deutsches Nationalbewußtsein zu schaffen und die nationale Einheit zu verwirklichen, wobei auch die bedeutende Rolle der Sprache in den Vordergrund trat. Ein solches Theater entsprach demnach jener Vorstellung, die durch die Entwicklung bei den Spaniern, in Frankreich und mit Shakespeare gegeben war. Das Hans-Wurst-Theater und die Hans-wurstiaden konnten bei einer solchen Auffassung nur auf Verachtung stoßen. Österreich jedoch brauchte kein Nationaltheater, es kannte keine Trennung zwischen hoher Literatur und Trivialliteratur, zwischen hohem Theater und niederem Theater. Wenn daher nach dem Zweiten Weltkrieg das österreichische Drama etwa mit Wolfgang Bauer, mit Turrini und so manchen anderen Autoren erneut an das Volksstück anschließt, so war damit nur „die Einheit der Tradition gewahrt“ (Esslin). Daß unter den führenden deutschsprachigen Bühnenautoren der Gegenwart die Österreicher so überwiegend vertreten sind, ist eine Tatsache, die bei der Darstellung deutschsprachiger Dramatik im Ausland zweifellos Beachtung verdient. Daß es jedoch auch im gegenwärtigen Augenblick für den Österreicher wichtiger ist, welcher Schauspieler auftritt und nicht, welches Stück gespielt wird, ist gleichfalls eine Eigentümlichkeit österreichischer Theaterrezeption.

Das Positivum der österreichischen Vergangenheit lebt auch in der Gegenwart. Es stellt sich nur die Frage, wo es am meisten aufgehoben ist und wer es daher am ehesten als Einheit von Vergangenheit und Gegenwart zu verkörpern vermag. Diese Frage erinnert ein wenig an jene Suche nach dem wahren Bürger in den Werken Thomas Manns. Die Antwort jedoch dürfte die gleiche sein. Das wahre österreichische, das Stefan Zweig als das Beheimatetsein in vielen Kulturen bezeichnete, hat die Sentimentalität nach der „Welt von gestern“ überwunden, und es findet sich wieder in der Fähigkeit junger Schriftsteller, in einer übernationalen Sprache Brücken zur Welt zu schlagen.

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