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Gibt es einen wissenschaftlichen Atheismus?

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„Wissenschaftliche Erkenntnis und religiöser Glaube sind unvereinbare Gegensätze“, schrieb der bekannte Sowjetastronom V. A. Ambarcumjam in der ersten Nummer der 1959 gegründeten sowjetischen Zeitschrift für antireligiöse Propaganda „Wissenschaft und Religion“ („Nauka i Religia“). Der Titel dieser Zeitschrift ist bewußt gewählt. Der staatlich verordnete Atheismus in den „sozialistischen Ländern“ behauptet von sich, „wissenschaftlich“ zu sein. Er nimmt für sich in Anspruch, die einzig mögliche Konsequenz aus den Erkenntnissen der modernen Wissenschaften gezogen und in diesen die Beweise für die Nichtexistenz Gottes, für die Sinnlosigkeit einer Religion, gefunden zu haben.

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„Wissenschaftliche Erkenntnis und religiöser Glaube sind unvereinbare Gegensätze“, schrieb der bekannte Sowjetastronom V. A. Ambarcumjam in der ersten Nummer der 1959 gegründeten sowjetischen Zeitschrift für antireligiöse Propaganda „Wissenschaft und Religion“ („Nauka i Religia“). Der Titel dieser Zeitschrift ist bewußt gewählt. Der staatlich verordnete Atheismus in den „sozialistischen Ländern“ behauptet von sich, „wissenschaftlich“ zu sein. Er nimmt für sich in Anspruch, die einzig mögliche Konsequenz aus den Erkenntnissen der modernen Wissenschaften gezogen und in diesen die Beweise für die Nichtexistenz Gottes, für die Sinnlosigkeit einer Religion, gefunden zu haben.

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Nun könnte man auf dem Standpunkt stehen, es sei Sache der intellektuellen Redlichkeit der Vertreter dieses „wissenschaftlichen“ Atheismus, wieweit sie solche Behauptungen aufzustellen und Wissenschaftlichkeit dafür in Anspruch nehmen können. Denn die Wissenschaftlichkeit des Atheismus ist eines der wichtigsten, wenn nicht das Hauptargument, mit dem Glaube und Religion im Osten in eine Pariastellung verwiesen werden.

Obwohl ihr einziges „Vergehen“ darin besteht, daß sie an Gott glauben, obwohl sie am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung mitarbei- ten, werden die Gläubigen in den Ländern, in denen der „wissenschaftliche“ Atheismus staatlich verordnet ist, wichtiger bürgerlicher Rechte beraubt. Es ist kein Geheimnis, daß zwei Kategorien von Bürgern existieren: Die Anhänger oder Bekenner der Staatsreligion, des Atheismus, gehören zur privilegierten Klasse. Allen anderen, die sich als religiös oder gläubig bekennen, sind verschiedene Berufsmöglichkeiten versagt. Sie können für den Staat interessante Berufe, wie Lehrer, Beamte oder Offiziere, nicht ausüben. Der Zugang zur Universität und zu anderen Bildungseinrichtungen wird ihnen erschwert.

Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage: Wie ist es um die Wissenschaftlichkeit des „wissenschaftlichen“ Atheismus bestellt? Friedrich Engels hat festgestellt: „Die wirkliche Einheit der Welt besteht in ihrer Materialität und diese ist bewiesen … durch eine lange, langwierige Entwicklung der Philosophie und der Naturwissenschaft.“ In diesem Sinne wird von den Propagandisten des „wissenschaftlichen“ Atheismus die ganze naturwissenschaftliche Entwicklung der letzten Jahrhunderte in Beschlag genommen, um die’Behauptung zu. untermauern, daß es in der Welt nichts anderes gebe als Materie, und alles Existierende nur eine jeweils verschiedene Erscheinungsform dieser Materie sei. Kopernikus habe mit der Aufstellung des heliozentrischen Systems den ersten Beitrag zum Beweis der materiellen Einheit der Welt geliefert. Durch sein System sei die Erde zu einem Planeten wie alle anderen geworden. Als weitere Marksteine werden etwa Newtons allgemeines Graviationsgesetz oder die Spektralanalyse, die auf den Himmelskörpern das Vorhandensein derselben Elemente wie auf der Erde nachwies, angeführt.

Auch die Errungenschaften der Naturwissenschaft seit der Jahrhundertwende werden als Argumente für den Atheismus vereinnahmt, obwohl Entdeckungen wie die der Elementarteilchen, der Möglichkeit der Umwandlung von Masse in Strahlung und umgekehrt, der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation, und neue Theorien wie die Quanten- und die Relativitätstheorie das selbstsichere Gedankengebäude des Materialismus des 19. Jahrhunderts zum Einsturz ge- gebracht haben.

Lenin versuchte weiteren „Überraschungen“ durch den Gang der wissenschaftlichen Entwicklung vorzubauen; er führte die Unterscheidung zwischen „philosophischem“ und „naturwissenschaftlichem“ Materiebegriff ein. Sein „philosophischer“ Materialismus blieb vage und unbestimmt; er lehnte die Annahme unveränderlicher, unteilbarer letzter Elemente der materiellen Welt ab und sprach von der „Unerschöpflichkeit“ des Elektrons, die von seinen Nachfolgern auch auf die anderen Eelementar- teilchen ausgedehnt wurde. Die These von der „Unerschöpflichkeit“ wird besonders hartnäckig vertreten, denn der Marxismus und Leninismus schreibt der Materie Ewigkeit und Unendlichkeit zu.

Die „glänzende Bestätigung“ des dialektischen Materialismus durch die moderne Naturwissenschaft, von der die Propagandisten des „wissenschaftlichen Atheismus“ immer wieder sprachen, kann so wiedergegeben werden: Die neue Atomphysik habe zwar den Materialismus des 18. und frühen 19. Jahrhunderts widerlegt, aber das Gedankengebäude des neuen, von Lenin vertretenen Materialismus und Atheismus sei durch die Erkenntnisse der neuesten Naturwissenschaft, der Kernphysik, in seiner Wissenschaftlichkeit glänzend bestätigt worden. Damit soll der Anschein erweckt werden, als ob Atheismus und wissenschaftlicher Fortschritt Hand in Hand gingen und sich gegenseitig bedingten.

Dagegen sagt Werner Heisenberg in seinem letzten Buch „Der Teil und das Ganze“ (1973, S 214) im Hinblick auf die Konfrontation von Wissenschaft und Glauben, vom Standpunkt seines Fachwissens her: „Wenn man in dieser westlichen Welt fragt, was gut und was schlecht, was erstrebenswert und was zu verdammen sei, so findet man doch immer wieder dem Wertmaßstab des Christentums auch dort, wo man mit den Bildern und Gleichnissen dieser Religion längst nichts mehr anfangen kann. Wenn einmal die magnetische Kraft ganz erloschen ist, die diesen Kompaß gelenkt hat… so fürchte ich, daß sehr schreckliche Dinge passieren können, die über die Konzentrationslager und die Atombomben hinausgehen.“

Noch deutlicher äußert sich in diesem Zusammenhang Max Planck als Begründer der Quantentheorie und damit Revolutionär auf dem Gebiet der modernen Physik und Chemie: „Wohin und wie weit wir also blicken mögen, zwischen Religion und Naturwissenschaft finden wir nirgends einen Widerspruch, wohl aber gerade in den entscheidenden Punkten volle Übereinstimmung. Religion und Naturwissenschaft - sie schließen sich nicht aus, wie manche heutzutage glauben oder fürchten, sondern sie ergänzen und bedingen einander. Wohl den unmittelbarsten Beweis für die Verträglichkeit von Religion und Naturwissenschaft, auch bei gründlich- kritischer Betrachtung, bildet die historische Tatsache, daß gerade die größten Naturforscher aller Zeiten, Männer wie Kepler, Newton, Leibnitz, von tiefer Religiosität durchdrungen waren . . .“ (Religion und Naturwissenschaft, Leipzig, 3. Auflage 1938).

Wenn wir die wissenschaftliche Basis des Atheismus näher untersuchen, so begegnen wir bald falschen Voraussetzungen. Wenn man annimmt, daß Wissenschaft mathematische Beweise liefern müsse für die Existenz Gottes und damit für die Echtheit einer religiösen Weltanschauung, einer gläubigen Existenz, so ist das nicht richtig. Was ich mathematisch beweisen kann, brauche ich nicht zu glauben. Wenn ich den Bereich der Wissenschaft auf das Meßbare ühd experimentell Erfaßbare beschränke, so kann die Existenz Gottes dadurch weder bewiesen noch geleugnet werden. Denn Gott kann als immaterielle und letzte Ursache des Seins - und davon müssen wir ausgehen - nur jenseits des Sichtbaren und wissenschaftlich erfaßbaren Universums existent sein. Er kann daher durch keine naturwissenschaftlichen Methoden und Beweise erfaßt werden.

Die Welt ist gewiß in sich erforschbar und beherrschbar, und damit ist auch die Versuchung gegeben, in der Erklärung der Welt ohne Gott auszukommen. Sie kommt zwar ohne Gott aus, leugnet ihn aber auch nicht. Denn das, was ich nicht brauche, ist deswegen nicht inexistent.

Die abendländische Philosophie hat gezeigt, daß der Mensch ein Wissen um eine erfahrungsjenseitige Tiefendimension des Daseins hat. Daher kann sich das endliche Dasein des Menschen nicht ohne irgendeinen Bezug zur Transzendenz vollziehen.

Hier ist der Ansatz für die richtig zu verstehenden Gottesbeweise. So stellt das Zweite Vaticanum fest, „daß Gott, aller Dinge Ursprung und Ziel, mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen sicher erkannt werden kann“. Alles aber, was über Gott als Ursprung und letztes Ziel aller Dinge hinausgeht, das unzugängliche Geheimnis Gottes, erschließt uns erst die im Glauben zu erfassende Offenbarung. In diesen Bereich kann die menschliche Vernunft allein auf sich gestellt nicht Vordringen.

Da die Hinfälligkeit des von Glanz und Tragik erfüllten Daseins immer auf die Frage stößt: Wohin gehe ich, welchen Sinn hat mein Leben, welchen Sinn haben Leiden und Tod? - wird die Gottesfrage als letzter Sinn des menschlichen Lebens immer wieder zur ernsten Herausforderung.

Das verstandesmäßige Denken wird aus den geschaffenen Dingen immer wieder žur Feststellung eines Ursprunges und Zieles aller Dinge kommen. Aber wenn ich auch zu einem verstandesmäßigen Beweis der Existenz Gottes komme, so genügt das allein nicht. Ich brauche dazu eine ethische Bereitschaft und seelische Aufgeschlossenheit. Auch die richtig verstandenen Gottesbeweise wollen eine objektive Gewißheit vermitteln, können aber keine zwingende Wirkung ausüben. Die persönliche Zustimmung bleibt im Bereich der freien Verantwortung. Denn angesichts so weittragender Entscheidungen kann ich mich immer auf Schwierigkeiten und Unklarheiten berufen, vor den existentiellen Konsequenzen eines solchen „Jasagens“ die Flucht ergreifen. Damit ist immer auch die Möglichkeit, nicht aber die Notwendigkeit des wissenschaftlichen Atheismus gegeben.

Aus den Grundthesen des dialektischen Materialismus:

1. Grundlegende Realität der Welt ist die Materie (Seit 1958 wird in der offiziellen Lehre der Sowjetphilosophie das menschliche Bewußtsein als nicht materiell anerkannt, wenn es auch „Produkt“, „Funktion“ und „Eigenschaft“ der Materie darstellt).

2. Die Materie ist absolut, ewig, unendlich.

3. Die Materie ist ständig in Bewegung.

4. Die Bewegung der Materie ist voranschreitend.

Wenn Engels glaubt, für die von ihm behauptete ewig in Bewegung befindliche Materie auf den „ersten Beweger“ - Gott verzichten zu können, dann ist dieser Verzicht nicht das Ergebnis einer Beweisführung, sondern ihr Ausgangspunkt, das vor aller Beweisführung vorhegende Resultat einer willensmäßigen Entscheidung. Engels zieht den physikalischen Satz von der Erhaltung der Energie als Beweismittel heran. Dieser Satz besagt jedoch nur, daß bei jedem physikalischen Geschehen, wie der Einwirkung eines Körpers auf den anderen, die Summe der Energien konstant bleibt. Ob jedoch die materielle Welt in ihrer Ge-

samtheit eine Ursache hat oder nicht, darüber sagt dieser Satz nichts aus. Die vom christlichen Glauben gelehrte Erschaffung der Welt ist nicht als ein physikalisches Geschehen in diesem Sinn zu verstehen.

Der Satz von der Erhaltung der Energie gründet sich auf zahllose experimentelle Beobachtungen. Seine Gültigkeit besteht darin, daß bisher noch kein Phänomen beobachtet wurde, das ihm widerspricht. Gerade dies wird jeder ernstzunehmende Wissenschafter betonen, wenn er den Satz von der Erhaltung von der Energie heranzieht. Ob die Gesamtsumme der Energie auf einen Schöpfungsakt zurückgeht oder nicht, entzieht sich dagegen jeder experimentellen Untersuchung, die die einzige Methode der exakten Wissenschaft ist.

Der dialektische Materialismus rühmt sich, eine Weltauffassung auf wissenschaftlicher Basis zu sein und behauptet, daß seine Thesen ausschließlich Resultat der Verallgemeinerung der Ergebnisse der Einzelwissenschaften sind. Tatsächlich ist jedoch die These, daß die Welt keinen Anfang in der Zeit habe, auf der Basis der Ergebnisse der ‘Einzelwissenschaften ein offenes Problem. Der dialektische Materialismus präsentiert diese Frage jedoch nicht als Arbeitshypothese, sondern als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis, ja er erlaubt nicht einmal, daß die einzelnen Wissenschaftszweige diese Behauptung in Zweifel ziehen. Der Versuch, eine solche These, wie die von der Ewigkeit der Materie aus dem Satz von der Erhaltung der Energie abzuleiten, muß notwendigerweise zu einem philosophischen Mißverständnis führen.

Der wissenschaftliche Atheismus hat sein Arsenal nicht nur mit Argumenten aus den Naturwissenschaften bestückt, mehr noch vielleicht glaubt er, die Humanwissenschaften heranziehen zu können. Grundsätzlich glaubt der „wissenschaftliche“ Atheismus mit Engels, daß „alle Religion nichts anderes ist, als die phantastische Widerspiegelung, in den Köpfen der Menschen, derjenigen äußern Mächte, die ihr alltägliches Dasein beherrschen.. Eine Widerspiegelung, in der die irdischen Mächte die Form von überirdischen annehmen“. Religion ist ein Produkt der Angst des Menschen, wie Lenin formulierte: „Die Ohnmacht der ausgebeuteten Klassen im Kampf gegen die Ausbeuter erzeugt ebenso unvermeidlich den Glauben an ein besseres Leben im Jenseits, wie die Ohnmacht des Wilden im Kampf gegen die Natur den Glauben an Götter, Teufel, Wunder erzeugt.“

Für den historischen Materialismus ist mit Marx die Produktionsweise der materiellen Güter der entscheidende Faktor der geschichtlichen Entwicklung, die notwendigen, unwandelbaren, erkennbaren Gesetzen unterworfen ist. Die Produktionsweise wird von Produktivkräften und den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen bestimmt. Der „Überbau“ spiegelt die Produktionsverhältnisse wider. Dieser Überbau wird zweigeteilt gesehen, es gibt einen politischen Überbau - der Staat, Heer, Recht umfaßt, - und einen „ideologischen“: Religion, Moral, Kunst, Philosophie. In diesen Bereichen unterscheidet der Marxismus zwischen wahren und „ideologisch verzerrten“ Inhalten. Dabei ist „ideologisch verzerrt“ im marxistischen Sprachgebrauch als „von falschem Bewußtsein geprägt“ zu verstehen, entstanden mit der Teilung der Gesell-

schaff in Klassen und mit der Eliminierung des Klassencharakters der Gesellschaft zum Verschwinden verurteilt.

Während nun der historische Materialismus zugesteht, daß Moral, Kunst und Philosophie nach der „Überwindung des falschen Bewußtseins“ auch in der klassenlosen Gesellschaft des Sozialismus zu voller Entfaltung kommen, wird der Religion jegliche Daseinsberechtigung abgesprochen. Die Religion wird als Ganzes als „von falschem Bewußtsein“ geprägt verurteilt, zwar laut Marx auch als „Seufzer der unterdrückten Kreatur“ aufgefaßt, aber eben drum auch als „Opium des Volkes“, ja „eine Art geistigen Fusels, in dem die Sklaven des Kapitalismus ihr Menschenantlitz und ihre Ansprüche auf ein halbwegs menschenwürdiges Leben ersäufen“ (Lenin).

Auf diesem Hintergrund muß die Wissenschaft dazu herhalten, zu beweisen, daß es - vor dem Aufkommen der Klassengesellschaft - eine religionslose Zeit in der Menschheitsgeschichte gegeben habe. „Bereits diese Problemstellung hat atheistischen Charakter“, heißt es in einem in Moskau herausgekommenen Werk über „Grundfragen des wissenschaftlichen Atheismus“. Denn für die Theologen und die Gläubigen sei die Religion eine ewige und übernatürliche Institution. Sobald man aber aufgezeigt habe, wie und vor allem wann die Religion entstanden sei, wäre der Beweis geliefert, - so meinen die sowjetischen Propagandisten - daß die Religion keinen Wahrheitsgehalt habe, daß Gott nicht existiere.

Der „wissenschaftliche“ Atheismus braucht daher das Dogma von der Religionslosigkeit des Urmenschen. Für die Dauer von neun Zehntel der bisherigen menschlichen Geschichte habe es keine Religion gegeben. In dem bereits zitierten Werk über Grundfragen des „wissenschaftlichen“ Atheismus heißt es: „Die Wissenschaft hat unbestreitbar bewiesen, daß dem Aufkommen der ersten Formen von Religion eine lange nichtreligiöse Periode vorangeht. Auf der Basis archäologischer Funde kann man feststellen, daß der Mensch vor zirka einer Million Jahre auf der Erde zu existieren begonnen hat. Ausgrabungen haben keinerlei Material zutage gefördert, das die Existenz religiöser Vorstellungen bei den ältesten menschlichen Arten erschließen könnte. Erst vor 50.000 bis 100.000 Jahren findet man Spuren, die darauf hinweisen, daß die menschlichen Wesen jener Epoche religiöse Ideen besaßen.“ Daß es aus den ersten Abschnitten der Menschheitsgeschichte (noch) keine archäologischen Hinweise auf religiöse Vorstellungen gibt, besagt aber noch lange nicht, daß diese Menschen keine solchen Vorstellungen gehabt hätten. Mit der gleichen Berechtigung könnte man behaupten, daß diese Menschen nicht gesprochen oder nicht geschlafen hätten, denn auch dafür lassen sich keine archäologischen Beweise erbringen. Das Gewicht, das von den Propagandisten des „wissenschaftlichen“ Atheismus auf die Unbestreitbarkeit des Arguments der fehlenden archäologischen Hinweise gelegt wird, scheint eher seine Schwäche zu erweisen.

Bemerkenswert ist auch, daß die Vertreter des „wissenschaftlichen“ Atheismus immer nur die Archäologie heranziehen wollen, dagegen die Ethnologie verschmähen. Vielleicht aus einem nur zu verständlichen Grund. Haben doch die neueren und neuesten ethnologischen Forschungen gezeigt, daß die letzten primitiven Völker der Erde, wie die afrikanischen Pygmäen, südostasiatischen Negritos oder die ursprünglichen Bewohner von Feuerland nicht ohne Religion sind, sondern im Gegenteil sehr hochstehende religiöse Vorstellungen haben, ja sogar an einen Hochgott glauben. Den Propagandisten des „wissenschaftlichen“ Atheismus ist angesichts dieser Ergebnisse immer nur die an den Haaren herbeigezogene Behauptung eingefallen, die ethnologischen Forschungen, oft von katholischen Priestern wie Wilhelm Schmidt angestellt, seien Fälschungen. Die katholischen Forscher hätten bewußt oder unbewußt versucht, die Mythen dieser Völker den „biblisch-christlichen Legenden“ anzupassen.

Außer mit der Archäologie wird die Annahme einer areligiösen Periode am Anfang der Menschheit von den Vertretern des „wissenschaftlichen“ Atheismus auch mit dem Hinweis begründet, daß dem Urmenschen die Fähigkeit zur Abstraktion gefehlt habe. Offensichtlich wird bei dieser Behauptung die Religion mit Religionsphilosophie oder gelehrter Theologie verwechselt. Denn auch hier zeigt die Ethnologie, daß die heutigen „Primitiven“ über Gott sehr konkrete Ideen haben. Wenn Engels in seiner „Dialektik der Natur“ behauptet, daß alle verstandesmäßigen Operationen wie Induktion, Deduktion, Abstraktion, Analyse, Synthese, Experiment Mensch und Tier prinzipiell gemeinsam seien, ist um so weniger einzusehen, warum dem Frühmenschen von den Propagendisten des „wissenschaftlichen“ Atheismus diaFähigkeit zu einer gewissen Abstraktion abgesprochen ist.

Einer der „wissenschaftlichen“ Propagandisten des Atheismus in der UdSSR hat unwissentlich zugegeben, daß es sich bei der Behauptung einer religionslosen Epoche am Anfang der Menschheit um nichts als eine unbewiesene Hypothese handelt: „Die Klassiker des Marxismus-Leninismus haben dem Problem der ursprünglichen Religion eine allgemeine und prinzipielle Lösung gegeben, aber sie haben sich nicht ausdrücklich damit beschäftigt, die Religion der Anfangsgründe der Menschheit zu studieren.“ Genau das ist der springende Punkt. Ohne irgendwelche empirische Forschungen durchzuführen, haben Marx und Engels das historische Problem des Ursprungs der Religion „gelöst“. Was jetzt den marxistisch-leninistischen Wissenschaftlern zu tun übrig bleibt, ist nur mehr, dieses Dogma mit archäologischem und ethnologischem Material zu untermauern. Und wenn sich das Tatsachenmaterial nicht dazu eignet - um so schlimmer für die Tatsachen. Das ist offensichtlich die bewährte Devise.

Eine Wissenschaft, die von den Mächtigen als Handlangerin des Atheismus in Dienst genommen wird, verliert ihren Wert. Gerade Wissenschaft in der Sowjetunion und in den anderen „sozialistischen Ländern“, die in den letzten Jahrzehnten soviel Erfolge errungen hat, sollte von einem solchen erniedrigenden Dienst befreit werden.

Heute spielt sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit das beschämende Schauspiel ab, daß die Wissenschaft dazu herhalten muß, für die Aufrecht erhaltung einer Zweiklassengesellschaft - hier p rivilegierte Atheisten, da entrechtete Gläubige - die Argumente zu liefern. Noch bedauerlicher ist es, daß dieses Schauspiel ausgerechnet im Machtbereich jener politischen Bewegung vor sich geht, die mit dem Ziel angetreten war, alle Klassenherrschaft zu beseitigen.

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