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Gibt es Gleichheit in Staat und Gesellschaft?

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Der Expressionismus des linken Protests in den sechziger Jahren ließ das die europäische Tradition kennzeichnende Gespür für Nuancen, Subtilitäten, Zwischentöne, Übergangserscheinungen und Mischformen verkümmern. Der grelle Geschmack für krasse Polarisierungen, unversöhnliche Alternativen und scharfe Abgrenzungen läßt vergessen, daß es nicht nur darum geht, Grenzen zu ziehen, sondern mehr noch darum, das umgrenzte Land zu bebauen. Es führt nicht weit, in der Debatte um Freiheit und Gleichheit gegen die SPÖ mit chinesischen und albanischen Beispielen oder gegen die ÖVP mit Manchesterliberalismus und Friedrich A. von Hayek zu argumentieren. Die Geschichte der letzten 200 Jahre kann unschwer auch als die ständige Auseinandersetzung um das „richtige” Mischungsverhältnis von Freiheit und Gleichheit verstanden werden.

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Der Expressionismus des linken Protests in den sechziger Jahren ließ das die europäische Tradition kennzeichnende Gespür für Nuancen, Subtilitäten, Zwischentöne, Übergangserscheinungen und Mischformen verkümmern. Der grelle Geschmack für krasse Polarisierungen, unversöhnliche Alternativen und scharfe Abgrenzungen läßt vergessen, daß es nicht nur darum geht, Grenzen zu ziehen, sondern mehr noch darum, das umgrenzte Land zu bebauen. Es führt nicht weit, in der Debatte um Freiheit und Gleichheit gegen die SPÖ mit chinesischen und albanischen Beispielen oder gegen die ÖVP mit Manchesterliberalismus und Friedrich A. von Hayek zu argumentieren. Die Geschichte der letzten 200 Jahre kann unschwer auch als die ständige Auseinandersetzung um das „richtige” Mischungsverhältnis von Freiheit und Gleichheit verstanden werden.

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Der moderne Staat ist Freiheitsund Gleichheitsstaat.

Dabei soll ein theoretischer Widerspruch zwischen Freiheit und Gleichheit, ein Spannungsverhältnis gar nicht geleugnet werden. Freilich ist es im westlichen Verfassungsstaat mit seinen rechts- und seinen sozialstaatlichen Elementen nach oft heftigen Konflikten immer wieder zu einer praktischen Konkordanz zwischen den beiden Prinzipien gekommen, er liegt also darin auf der abendländischen Kontinuitätslinie der „gemischten Verfassung”.

Die großen politischen Ideenkreise und Bewegungen haben jeweils verschiedene Akzentuierungen und Ge-

Wichtungen in diese großen Auseinandersetzungen um das Mischungsverhältnis eingebracht. Mit dem Mut zu einer gewissen Vereinfachung läßt sich sagen, daß der Liberalismus sich für die Chancengleichheit einsetzte, die Christliche Demokratie die mitüere Position der Chancengerechtigkeit einnahm und der Sozialismus die Gleichheit auch unter Inkaufnahme bürokratisch vollzogener Regelungen besonders betonte. Der Weg der Mitte geht dahin, in der Gleichheit nicht Selbstzweck und Höchstwert zu sehen, sondern vielmehr die Form, in der andere Werte wie Freiheit, Familie, Eigentum, Partizipation an politischen Entscheidungen unter Berücksichtigung der das Gleichheitsprinzip insofern relativierenden Sacherforder- nisse (zum Beispiel Eigenstruktur der Familie, Leistungsprinzip) verwirklicht und möglichst vielen Menschen erschlossen werden. Hiezu ist eben ständiges Bemühen um Chancengerechtigkeit, die mehr als bloße Chancengleichheit ist, erforderlich, und zwar durch Bereitstellung einer Basisausstattung für alle, von weiterführenden Hilfen und Förderungen in einem offenen, nicht durchbürokrati- sierten Ausgleich, der dem einzelnen eine individuelle Entfaltung ermöglicht und sie nicht reglementierend erstickt.

Eine differenzierte Sicht des Gleichheitsproblems, für die hier plädiert wird, erfordert zuerst einmal eine Begriffserklärung: Bei „Gleichheit” handelt es sich um einen Verhältnisbegriff, ein Urteil darüber, daß zwei oder mehrere Gegenstände, Personen oder Sachverhalte in einem bestimmten Merkmal übereinstimmen. Es handelt sich immer um Gleichheit in einer bestimmten Hinsicht. Welches Merkmal, welche Eigenschaft als jeweils relevant zu gelten hat, hängt von Wertungen ab. Gleichheit der relevanten Merkmale meint immer auch Ungleichheit anderer Merkmale; der deutsche Rechtsphilosoph Gustav Radbruch wies darauf hin, daß Gleichheit immer nur Abstraktion von Ungleichheit unter einem bestimmen Gesichtspunkt sei. Von der eben skizzierten „Gleichheit” sind „Identität” und „Ähnlichkeit” zu unterscheiden. „Identität” ist die Übereinstimmung eines Gegenstandes mit sich selbst nach allen Kriterien, ,yÄhnlichkeit” die nur annähernde Übereinstimmung der miteinander verglichenen Einheiten.

Die Gleichheitsidee übt wohl nicht zuletzt wegen ihrer Einfachheit und -Klarheit, wegen ihres formalen und quantitativen Charakters auf den modernen, säkularisierten Menschen eine große Faszination aus. Seit der Aufklärung wurde die alte Frage nach Entstehung der Legitimität von Ungleichheiten radikalisiert, gerade auch durch die kritischen Attacken der Neuen Linken in der jüngsten Vergangenheit.

Vordergründig betrachtet, erscheint die politische Gleichheit in unserer Demokratie durchgesetzt, und dennoch ist der Stoff der gegenwärtigen Reformdiskussion von den Fäden des Gleichheitsproblems durchwoben, mag es sich um die innerparteiliche und innerverbandliche Demokratie einschließlich der Vorwahlen oder um die Stellung von Regierungs- und Oppositionsparteien im politischen System handeln. Erst recht wird das Gleichheitsprinzip virulent, wenn die Expansion der Demokratie gefordert wird (Partizipation, Bürgerinitiativen und Demokratisierung). Fernab vom öffentlichen Bewußtsein finden sich Reflexe unseres Problems in der fast ausschließlich von Experten geführten Grundrechtsdebatte (etwa die Drittwirkung des Gleichheitsgrundsatzes oder die sozialen Grundrechte).

Interessanterweise wurden während der letzten 15 Jahre Gleichheit und Ungleichheit besonders heftig in bezug auf Familie und Bildung diskutiert, wobei es intensive Grenzstreitigkeiten um die Frage nach der Ausdehnung von sozialer und von natürlicher Gleichheit oder Ungleichheit gab und noch gibt. Gerade am Beispiel der als Ursprung und Verstärkerin von Ungleichheit angeprangerten Familie läßt sich zeigen, wie die schematische Dominanz des Gleichheitsprinzips zur Unterdrückung und zum schließli- chen Verlust anderer Werte führen kann. Die nach wie vor auf einen hohen gesamtgesellschaftlichen Konsens gestützte Einrichtung der Familie erfüllt eine so wichtige Aufgabe als Ort der Primärsozialisation, Enkultura- tion und Personalisation, der lebenslangen personalen Interaktionen unter starker Identifikation und Intimität, daß die mit der Familienhaftigkeit menschlichen Lebens verbundenen Ungleichheiten keineswegs zu hoch bezahlt erscheinen. Überdies ist es einfach zu eng und ökonomistisch gedacht, die Gleichheit der Frau nur über den Weg einer außer-häuslichen Berufstätigkeit und letztlich stark reduzierter Kinderzahlen erreichen zu wollen.

Auch beim Bildungswesen setzten kräftige Egalisierungsbemühungen an, wurde der schon früher errungene gleiche formale Zugang zur Bildung nicht nur durch verbesserte Nutzung der gegebenen Chancen - zumindest ansatzweiser Abbau sozialer, konfessioneller, regionaler und geschlechtsspezifischer Ungleichheiten - ergänzt, sondern auch bisweilen die Gleichheit des Bildungserfolgs postuliert. Diese Sicht blendet jedoch die gerade durch neuere Forschungen unterstrichene Ungleichheit der genetischen Ausstattung des Menschen - die Erblichkeit des Intelligenzquotienten beträgt in Industriestaaten etwa 80 Prozent - aus, glaubt an die umfassende Kraft sozialer Kompensation natürlicher Ungleichheiten. Pointiert wendet sich daher der bayrische Kultusminister Hans Maier gegen einen „pädagogischen Nulltarif”.

Die wortreichen Polemiken um die Gleichheitsfrage bei Familie und Bildung haben viele Kräfte absorbiert, so daß in Österreich die große alte Problematik der Einkommens- und Vermögensverteilung und die neuere der Gesundheit und zumal die der Disparitäten zwischen Nord und Süd, die prekäre Lage der Dritten Welt, nur ziemlich leise diskutiert werden. Dies trifft wohl auch für den Kernbegriff der Leistung zu, der allzu häufig nur in der eingangs erwähnten Polarisierung - schroffe Ablehnung oder vorbehaltlose Kanonisierung - in österreichischer Rede steht, wobei einerseits die Unverzichtbarkeit des Leistungsgedankens als Steuerungsprinzip einer effizienten Wirtschaft, anderseits seine Korrekturbedürftigkeit durch soziale Tugenden wie Solidarität, Nächstenliebe und Ermunterung übersehen wird.

Der Sozialdemokratie istein starkes egalitäres Pathos eigen: Sie muß sich daher mehr als andere Parteien die Frage nach der Einlösung des egalitären Anspruchs gefallen lassen. Nach siebenjähriger sozialistischer Herrschaft in Österreich dürfte das Ergebnis mager ausfallen. Ja, es scheinen die individual- und sozialpsychologischen Voraussetzungen, mehr Gleichheit auch in der eigenen Lebenssituation zu akzeptieren, innerhalb der SPÖ, namentlich ihrer Funktionäre, eher schwächer geworden zu sein. Der sozialdemokratische Theoretiker Norbert Leser, dessen fast franziskanisch anmutenden Mahnungen und Forderungen nach Privilegienabbau nicht gerade zu seiner innerparteilichen Aufwertung führten, stellte unlängst so etwas wie einen balancierten Stillstand fest: „Weder die Befürworter des Sozialismus in unseren Breiten können - sofern sie nicht einer nebulösen Revolutionsstrategie huldigen, deren Konturen sich nirgends abzeichnen - wesentlich über das erreichte Maß an Sicherheit und Gleichheit’ hinausgehen, ohne die Wirtschaft, die die Voraussetzung einer so verfahrenen Gestaltung ist, zu schädigen und damit hinter das Erreichte zurückzufallen, noch können die Gegner des Sozialismus wesentlich an den Errungenschaften rütteln, die die Sozialisten erkämpft haben, oder die wenigstens mit ihrem historischen Aufstieg parallel liefen.”

Bleibt also nur Resignation oder Schadenfreude? Jedenfalls ist der ältere Optimismus, durch große Regelungsdichte mehr Gleichheit zu erzwingen, der ernüchternden Erkenntnis gewichen, daß dieser Weg von allen Nachteilen der Bürokratie gesäumtist. Neben Dezentralisierungs- und Partizipationskonzepten kann wohl auch eine verbesserte Sozialmoral - die katholische Soziallehre sprach gern von „Gesinnungsreform” - Hilfen gegen die Bürokratienachteile bieten; so vermittelt das Christentum mit seiner biblischen, seit Johannes XXIII. noch stärker akzentuierten Gleichheitsund Solidaritätsidee eine den Egoismus übergreifende Haltung, die es überhaupt erst ermöglicht, mehr Gleichheit innerlich anzunehmen. Gerade Christen sind aber auch besonders stark zur persönlichen Wertverwirklichung verhalten, sie dürfen sich am allerwenigsten auf Strukturen und Verhältnisse ausreden.

Eine wichtige Gegenwartsaufgabe liegt nun darin, mitmenschliche, partnerschaiftliche Solidarität wirksam werden zu lassen, die jenseits der alten großorganisierten Gegenüberstellung von Kapital und Arbeit die Menschen in ihrer konkreten Situation, in ihren neuen, auch immateriellen Nöten erreicht, den schwer oder kaum Organisierbaren, den neuen Benachteiligten beispringt, den gebotenen und ungeborenen Kindern, den Frauen, den Müttern, den kinderreichen Familien, den Alten, den kleinen Selbständigen und Bauern, den Gastarbeitern, den Kranken und Behinderten. Es soll jedoch nicht verschwiegen werden, daß derartige christliche Gleichheitsinitiativen in einen Divergenzbereich zwischen den sozialkatholischen . und den wirb schaftsliberalen Formationen der christlichdemokratischen Parteien geraten können, die aber ihren vielbeschworenen Charakter als Integra- tions- und Volksparteien gerade darin erweisen, daß sie auch innerparteilich eine praktische Konkordanz von Gleichheit und Freiheit erzielen.

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