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Gibt es zuviel Religion:

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Weihnachten ja, Christentum nein? Sechs Jahre lief eine Studie des Lutherischen Weltbundes zum Thema „Civil Religion“. Ergebnis: Rituale blühen auch im Säkularismus.

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Weihnachten ja, Christentum nein? Sechs Jahre lief eine Studie des Lutherischen Weltbundes zum Thema „Civil Religion“. Ergebnis: Rituale blühen auch im Säkularismus.

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FURCHE: Herr Planer-Friedrich, woher kommt der Begriff „Civil Religion“.

GÖTZ PLANER-FRIEDRICH: Das erste Mal wird Civil Religion bei Jean-Jacques Rousseau zur Zeit der französischen Aufklärung erwähnt. Rousseau meinte, daß es für einen säkularen Staat notwendig wäre, eine Art bürgerliches Glaubensbekenntnis zu haben. Dieser Gedanke ist später, etwa vor 25 Jahren, von dem amerikanischen Soziologen Robert Bella aufgegriffen worden. Bella meinte, in der Gesellschaft Amerikas habe der einzelne nicht durch sein religiöses Glaubensbe-. kenntnis, sondern durch seine Bindung an den Staat eine bürgerliche Religion entwickelt, die den Zusammenhalt in der Gesellschaft gewährleisten würde. Man könnte also vielleicht von Bürgeroder Leutereligion reden.

FURCHE: Warum ist die Studie zu dem Schluß gekommen, daß wir heute nicht in einer Welt ohne

Religion, sondern in einer Welt mit zuviel Religion leben?

PLANER-FRIEDRICH: Wir können das heute besonders an zwei verschiedenen Tendenzen beobachten. Auf der einen Seite gibt es im europäischen und im nordamerikanischen Kontext eine deutliche Auflösung der klassischen Religionsmuster. Auf der anderen Seite sehen wir im Islam eine Verstärkung restriktiver religiöser Richtungen. Diese beiden Tendenzen liegen miteinander in Konkurrenz. Trotzdem ist die säkulare Gesellschaft in Europa ebenso durchsetzt von religiösen Mustern, ähnlich wie der asiatische oder afrikanische Raum, in dem eine Wiederbelebung der klassischen Religionen zu beobachten ist.

FURCHE: Könnten Sie hierzu Beispiele nennen? '

PLANER-FRIEDRICH: In Eu-ropa können wir sehen, daß die Gesellschaft immer mehr auf rituelle Formen zurückgreift, um Verbindung unter den Menschen herzustellen. Ich denke dabei an Demonstrationen, an die Olympischen Spiele oder an Formen der Zeichensetzung durch Plakate.

Den sozialistischen Staaten wurde immer unterstellt, daß sie im Grunde nur den Platz Gottes ausgetauscht hätten; dagegen haben sich meiner Ansicht nach die Marxisten zu Recht gewehrt. Sie wollten eine wirklich säkulare Form der Gesellschaft aufbauen. Es zeigt sich aber, daß die Menschen auf die Säkularisierung anders reagieren, als es die sozialistischen Führer ursprünglich gemeint haben. Man kann beobachten, daß man auch bei dieser Form der Gesellschaft nicht ohne Formen des Kultes auskommt, wobei durchaus religiöse Elemente übernommen wurden.

FURCHE:In Europa gibt es eine ganze Reihe von Volkskirchen. Wo wäre die Grenze zwischen der Volkskirche und dem Phänomen der Civil Religion zu ziehen?

PLANER-FRIEDRICH: Den Unterschied möchte ich an zwei Begriffen klarmachen. In der Kirche muß man Mitglied werden durch die Taufe und auch durch die Kirchensteuerzahlung. Bei der Civil Religion hingegen gibt es kein Auf nahmeritual, man nimmt an ihr teil, ohne sich dessen unbedingt bewußt zu sein. Wir sehen das am Beispiel der großen kirchlichen Feste. Weihnachten ist aus dem rein christlichen Bereich ausgewandert und ist heute ein Volksfest, bei dem die Bevölkerung ihre Civil Religion reproduziert. Erstaunlicherweise kennen viele Menschen heute die Anlässe christlicher Feste kaum mehr genau, obwohl sie die Rituale, die sich im Laufe der Geschichte angesammelt haben, durchaus nachvollziehen können.

FURCHE: Nach welchen Kriterien soll die Kirche entscheiden, wann sie die zivile Frömmigkeit der eigenen Nation unterstützen kann, und wann sie sich in kritischer Distanz zu ihr stellen soll?

PLANER-FRIEDRICH: Dazu würde ich gerne zwei Beispiele aus dem asiatischen Bereich nennen. So hat Indonesien in seiner Verfassung ein civil-religiöses Grundprinzip entwickelt, die sogenannte „Panchasila“. Dabei handelt es sich um fünf Grundsätze, die jeder Bürger akzeptieren kann und soll. Diese Form der Civil Religion ist durchaus positiv zu bewerten, weil hier versucht wird, eine Nation zu einer Gesellschaft zusammenzufügen, die durch ihre religiöse Herkunft, durch ihre Traditionen, durch ihre nationalen Unterschiede gespalten ist.

Ein weiteres Beispiel wäre Japan, eine durch den Staatsshin-toismus sehr stark geprägte Gesellschaft; in ihr lebt kaum ein Prozent Christen. Dort gibt es den Jakuni-Schrein, der eine Art Nationalheiligtum ist, bei dem die Helden der japanischen Kriege verehrt werden. Dieser japanische Heldenkult muß den Christen schwerfallen, da hier menschliche Heroen zur Anbetung angeboten werden. Eine solche Form der Civil Religion hat einen exklusiven Charakter, weil sie bestimmte Menschengruppen ausschließt. Im Gegensatz zu Indonesien, wo die Menschen durch die Civil Religion gesellschaftlich integriert werden.

FURCHE: Welche Konsequenzen können aus Ihrer Studie für das Verhältnis von Religion und Gesellschaft gezogen werden?

PLANER-FRIEDRICH: Die wesentliche Erkenntnis dieser Studie besteht darin, daß Religion und Gesellschaft in einer Symbiose miteinander leben. Das heißt, daß sie nie genau voneinander zu trennen sind. Jede Gesellschaft hat religiöse Elemente, und jede Religion hat auch ein Bedürfnis, Gesellschaft zu gestalten. Deswegen muß man sehr genau unterscheiden, wo die Kirche sich von ihrem christlichen Glauben her an die Civil Religion anschließen soll, und wo sie sich von ihr distanzieren muß.

Es kann nicht von vornherein damit gerechnet werden, daß man die christlichen Werte in der Gesellschaft so akzeptiert, wie die Kirche sie lehrt. Aber die Kirchen müssen allen Versuchen wehren, die Menschenwürde und die Freiheit des Gewissens verletzen. Dies geschieht nämlich in Südafrika, wo Civil Religion den Rassismus und die Apartheid mit einer Ideologie unterstützt, die aus der reformierten Tradition des auser-wählteri Volkes stammt. Hier hat die Kirche dem civil-religiösen Trend zu widerstehen, wofür sich ja auch verschiedene Theologen und Kirchenführer einsetzen.

FURCHE: An welchen Kriterien soll die Kirche diese Einschätzung überprüfen?

PLANER-FRIEDRICH: Das Hauptkriterium ist das Menschliche. Es ist für die christlichen Kirchen entscheidend, daß Christus ein Mensch geworden ist und daß sie in der Menschwerdung Christi Gott wiedererkennen. Deshalb geht es um menschliche Werte, die das Leben in der Gesellschaft fördern. Und darum, daß Menschen nicht diskriminiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. So verstanden ist die civil-re- ' ligiöse Transformation des christlichen Glaubens akzeptabel.

Mit Dr. Götz Planer-Friedrich, Referent für sozialethische Fragen beim Lutherischen Weltbund in Genf, sprach Felizitas von Schönborn,

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