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Gibt's hier was Süßes ?

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Diese Betrachtung schreibe ich in einem Cafehaus, einem der schönsten und friedlichsten Orte in der Welt, vorausgesetzt, es dröhnt kein Radio. Das Äußerste an Geräuschen ist das gedämpfte Klirren von Löffeln oder Gabeln und das dito Stimmengewirr. Nur der Klang. Man sollte die Worte nicht verstehen.

Daß Künstler Cafehäuser aufsuchen, ist bekannt. Wer komponiert, malt, bildhauert, schreibt, liebt die Stille. Er liebt auch den Frieden. Denn wer komponiert, malt, bildhauert, schreibt, ist vollauf beschäftigt (besonders in der Zeit, in der er das alles nicht tut, also in der Stille vor dem Sturm).

Wer so vollauf beschäftigt ist, wird nie auf den verrückten Gedanken kommen, die Hände an die Hosennaht zu legen, auf dem Absatz kehrtzumachen, mit den Hacken zu knallen oder gar ein Gewehr in die Hand zu nehmen, um im Ernstfall damit auf Menschen zu schießen.

Wenn ich bisher der Meinung war, Künstler seien die friedlichsten Menschen der Welt, so muß ich meine Meinung revidieren, erfreulicherweise sogar erweitern.

Ich habe das wohl zu sehr aus dem Blickwinkel des Schreibers gesehen.

Ab meiner neuen Erkenntnis kann ich sagen: Wir heißen Euch hoffen.

Natürlich kam sie mir im Cafehaus. Ich sah mir die Besucher an. Und da gingen mir die Augen auf: Künstler? Wo denn?

Hausfrauen saßen da, Hausfrauen aller Altersstufen, von jung über mittelalterlich bis -aber viel älter wird eine Frau ohnehin nicht. Wie sie alle da saßen: dankbar von Kopf bis Fuß, daß ihnen etwas aufgewartet wurde. (Wo es sonst immer sie sind, die aufwarten.)

Sie genossen Kaffee schwarz und mit Obers, Torte mit und ohne Obers, heiße Schokolade. Die mit der Schokolade hatten fast Kindergesichter - so andächtig. Sie aßen und tranken nicht; sie zelebrierten.

Ja, wer noch? Touristen natürlich, die nach so viel Museen und Kirchen kulinarische Oasen der Ruhe suchen. Außerdem ist das Studium landesüblicher Mehlspeisen mindestens so aufschlußreich für den Charakter einer Nation wie die Literatur - beispielsweise.

Vollends entzückt war ich, als ein Mann, aber schon im allerbesten Alter, hereinkam, freudig, stockschwingend und mit dem für alle vernehmbaren Ruf: „Gibt's hier was Süßes?“

Die Frage war rein rhetorisch, denn er stand ja schon vor der Glasvitrine mit dem schlaraffi-schen Angebot. Die Sympathien aller Gäste flogen ihm zu. Alle nickten eifrig, alle lächelten. Er entschied sich für Sachertorte mit Schlag und einen großen Braunen, dem er einen zweiten folgen ließ.

Ich geriet ins Nachdenken.

Kinder lieben Süßigkeiten. Auch sogenannten Narren sagt man nach, daß sie Süßigkeiten lieben.

„Kinder und Narren sagen die Wahrheit.“

Ungesund? Ach, wenn wir wüßten, was wir heutzutage alles essen und trinken, wüßten wir, daß viel mehr ungesund ist als ausgerechnet Süßigkeiten.

Woran hatte mich die Frage des Mannes erinnert? Richtig: an Franz Werfel und seine hinreißende Bühnenfigur aus dem Stück „Jacobowsky und der

Oberst“. Wer Fritz Muliar in der Titelrolle gesehen hat, wird das nie mehr vergessen.

Da sitzt gleich zu Anfang eine kleine, verängstigte Schicksalsgemeinschaft im Luftschutzkeller eines Hotels in Paris. Bomben fallen. Mitten in Krawall und Panik geht die Tür auf und Jacobowsky erscheint. Jacobowsky, der immer unterwegs ist, um irgend etwas Gutes und Nützliches zu organisieren, Benzin, Speck, Eier — und es gelingt ihm immer. Was hat er diesmal mitgebracht? Glasierte Kastanien, eine Köstlichkeit, mitten im Krieg, bei Nacht, während eines Bombenangriffs. Wo er die aufgetrieben hat, weiß der Himmel.

Weder der Himmel noch Jacobowsky verraten es, es erscheint ihm nicht wichtig. Wichtig ist ihm wieder einmal, zu trösten, denn er ist die Güte in Person, ist das, was man „eine Seele von einem Menschen“ nennt. Und so bietet er der ihm zunächst sitzenden ängstlichen Frau und ihrem halbwüchsigen Schützling glasierte Kastanien an: „Nehmen Sie doch“, sagt er, „Süßes tröstet.“ Irre ich mich, oder ging damals bei dieser aphoristischen Weisheit ein spürbares

Lächeln durchs Publikum?

„Süßes tröstet“ — nicht nur in Luftschutzkellern und Bombennächten. Auch im Alltag, wo man den kleinen Oberflächen-Trost am nötigsten hat.

Ich sah mich um in meinem Stamm-Cafe. Es ist so klein, daß man, ohne sich zu rühren, alle Tische im Blick hat. Die Stammgäste kenne ich. Die Touristen nicht. Uber die Besitzerin erfuhr ich, was ich noch wissen mußte, nämlich den Beruf der Stammgäste. Die meisten waren Hausfrauen, einer war Steuerberater, ein anderer ein Hochschulprofessor im Ruhestand, ferner eine Juristin, ein Geschäftsmann, ein Bankangestellter.

Künstler?

Da hatte ich den Beweis für die Erweiterung meines Blickwinkels: auch Hausfrauen, Steuerberater ... siehe oben, sind nebenberuflich passionierte Cafehaus-Besucher.

Somit erweitert sich der Kreis der Friedliebenden auf ungeahnte Weise. Diese Vorstellung tröstet— wie Süßes.

Und wer etwa über den Herrn mit der freudigen Frage „Gibt's hier was Süßes?“ geringschätzig lächeln sollte: dieser Herr war ein sehr männlicher Mann, dem man genauso gut die Erstbesteigung eines Berges wie ein Tennismatch zugetraut hätte. Das nebenbei.

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