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Giereks Wirtschaftswunder

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Polen ist ein Land, dessen Geschichte und Gegenwart durch Paradoxien gekennzeichnet ist. Der Fortschritt scheint in diesem Land mit fortschreitenden inneren Zersetzungsprozessen gekoppelt zu sein, Unterdrückung und Diktatur bewirkten jeweils nationale und kulturelle Hochblüten.

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Polen ist ein Land, dessen Geschichte und Gegenwart durch Paradoxien gekennzeichnet ist. Der Fortschritt scheint in diesem Land mit fortschreitenden inneren Zersetzungsprozessen gekoppelt zu sein, Unterdrückung und Diktatur bewirkten jeweils nationale und kulturelle Hochblüten.

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So war Polen das erste europäische Land, das eine Art von Parlamentarismus entwickelte, doch war nicht zuletzt dieser Parlamentarismus dafür verantwortlich, daß dem Land seine nationale Souveränität verlorenging. Der polnische Parlamentarismus hatte sich im 14. und 15. Jahrhundert in den Pro-vinz-Adelssejmen entwickelt. Im 16. Jahrhundert gab es bereits ein voll entwickeltes Parlamentssystem mit zwei Kammern: dem Sejm, zu dem Abgeordnete gehörten, die in den Provinz-Adelssejmen gewählt wurden, und dem Senat, der aus hohen staatlichen Würdenträgern bestand. Der König war an Parlamentsbeschlüsse gebunden und das Parlament kannte theoretisch dem König „im Falle von Tyrannei“ den Gehorsam verweigern. Im 17. und 18. Jahrhundert degenerierte der polnische Adelsparlamentarismus mit dem Liberum veto. Diesem zufolge mußten sämtliche Sejm-Beschlüsse einstimmig gefaßt werden. Eine einzige Gegenstimme machte nicht nur einen Beschluß ungültig, sondern konnte sogar zur Auflösung des Parlaments führen.

Unter Polens letztem König, Stanislaw Poniatowski, einem Geliebten der russischen Zarin Katharina II., erfolgte Polens erste Teilung und erhielt das Land zugleich ein beispielhaftes Schulwesen. Wissenschaft und Literatur blühten auf. Die Zarin verstand geschickt, die innere Schwäche und die Korruption des polnischen Adels, der sich durch seinen exzessiven Demokratismus selbst seiner Handlungsfähigkeit beraubt hatte, für ihre Pläne auszunutzen. Während der Herrschaft Poniatowskis führten Rußland, Preußen und Österreich die drei Teilungen Polens in den Jahren 1772, 1793 und 1795 durch. Die inneren Reformen, die Poniatowski plante und zum Teil durchführte, beschleunigten nur die Teilungen: die europäischen Großmächte befürchteten, daß durch solche Reformen die Ideale der Französischen Revolution in Osteuropa Eingang fänden, und ließen deshalb Polen von der europäischen Landkarte verschwinden. Danach hatte der Staat Polen eine Existenzpause, die 120 Jahre dauerte. In dieser Zeit formte sich das polnische Nationalbewußtsein, entstanden die großen Werke der polnischen Literatur: Miokiewicz schrieb 1834 in Paris das polnische Nationalepos „Pan Thaddäus“ und auch Julius Slowacki, der Vollender der polnischen Romantik, beschrieb das polnische Martyrium im französischen Exil.

Es ist verständlich, daß dieses Nationalbewußtsein übersteigerte Züge annahm und sich vor allem gegen die beiden Großmächte Rußland und Deutschland richtete. Die Koexistenz mit beiden war und ist für Polen ein schmerzhafter Faktor, der einerseits in der Schreckensherrschaft des Hitler-Regimes kulminierte, anderseits das Land der stalinistischen Unterdrückung auslieferte. Das einzige Land Europas, dem sich Polen verwandt fühlt und zu dem es eine positive Beziehung hat, ist Frankreich, da die Polen in den Ideen der Französischen Revolution eine Lösung für ihre nationale Problematik sahen. Die großen polnischen Romantiker kleideten diese Ideen in nationale Gewänder und verarbeiteten auch die christlichen Ideale des Katholizismus, der im polnischen Geistesleben seit Jahrhunderten eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hatte und sie bis heute noch spielt. Auf Grund der besonderen historischen Situation Polens konnten panslawi-stische Ideen, die im 19. Jahrhundert bei den Tschechen, bei den Südslawen und Bulgaren eine wichtige Rolle spielten, im Land zwischen Oder und Njemen überhaupt nicht Fuß fassen. Die Sicherung ihrer nationalen Identität suchten die Polen nie im Panslawismus, sondern viel eher im Katholizismus. Die slawischen Brüder im Osten hatten den Polen die blutige Unterdrückung der Aufstände im 19. Jahrhundert beschert und die Erinnerung an diese Aufstände war es auch, welche die Polen von einer Befreiung durch die Rote Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges wenig Gutes erwarten ließ. Der mißlungene Warschauer Aufstand von 1944 war ein Versuch der Polen, die deutsehe Herrschaft ohne sowjetische Hilfe abzuschütteln.

Die auf der Konferenz von Jalta vorgenommene Teilung der Welt durch die Großmächte ließ Polen nichtsdestoweniger zu einem sowjetischen Satellitenstaat werden, der stalinistische Terror legte sich schwer über das Land und schloß es vom Westen ab. Doch obwohl die Gefängnisse gefüllt waren, gab es in Polen weder groß aufgezogene Schauprozesse, wie sie sich in Ungarn oder der Tschechoslowakei abspielten, noch die damit verbundenen Massenhinrichtungen. Die kommunistische Ideologie wurde zwar wohl oder übel angenommen, vergleicht man aber die Situation in Polen mit derjenigen in anderen Ländern des sozialistischen Lagers, so trägt sie in Polen doch sehr den Charakter eines verbalen Schleiers, unter dem administrative Mißwirtschaft, privates Spekulantentum und ein begrenzter wirtschaftlicher Liberalismus einträchtig kooperieren.

Ein typisches Beispiel ist die polnische Landwirtschaft: jahrelang wurde eine intensive Propagandakampagne zur Kollektivierung der Landwirtschaft durchgeführt, eine Kollektivierung fand jedoch nicht statt. Mehr als 83 Prozent des landwirtschaftlichen Nutzungslandes sind heute in Privatbesitz, nur 1,8 Prozent sind Kollektivwirtschaften, etwa 15 Prozent des Landes sind Staatsgüter. Die polnische Landwirtschaft ist heute unbestritten eine der leistungsfähigsten des ganzen Ostblocks.

Bei der Industrie allerdings führten Mißstände in Planung und Verwaltung unter der Regierung Gomulka zu schweren Versorgungsstörungen und Disproportionen von Löhnen und Preisen. Die polnischen Werftarbeiter reagierten mit Aufständen und der neue Parteichef Edward Gierek versprach den Werktätigen auf dem 6. Parteitag der polnischen KP im Dezember 1971: „Die Folgen unserer Politik müssen für das Volk spürbar sein.“

Zwar waren die Folgen der Politik auch vorher schon spürbar gewesen, doch unter der Leitung Giereks sollte es wirklich zu positiven Auswirkungen kommen. Gierek bemühte sich vor allem darum, durch Einführung moderner Managementmethoden und ein verbessertes Betriebsklima die Produktion zu steigern. Der Erfolg gab Gierek recht: Jeder Pole kann heute 4000 Schilling im Jahr mehr ausgeben als unter Gomulka. Besonders stark wuchsen Außenhandel und Kohlenförderung, Wohnungsbau und Rinderzucht.

Stärkeren Widerstand fand Gierek, als er versuchte, die laxe Arbeitsmoral in den Betrieben durch ein neues Arbeitsrecht zu verbessern. In vielen Fabriken kam es zu wilden Warnstreiks und Bummelschichten. Gierek erreichte sein Ziel auf dem Umweg über ein Gesetz für ein neues Prämiensystem: danach werden Arbeiter, die besonders fleißig und besonders pünktlich sind, unabhängig von der Leistung des gesamten Betriebes durch leistungsgerechte Löhne und Prämien honoriert.

Gierek schaffte die Zwangsabgaben der Bauern für den Staat ab, reformierte die Steuern, gab billigere und höhere Kredite und erleichterte den Zukauf von landwirtschaftlichem Boden. Polens Bauern fürchten nicht, wie in anderen sozialistischen Ländern, enteignet zu werden.

Gefahr droht dem polnischen Wirtschaftswunder heute vor allem von der überhitzten Kaufkraft, der ein noch immer unzureichendes Warenangebot gegenübersteht. Die Kulturpolitik ist auch unter Gierek weitgehend restriktiv: Der Journalist Witold Wirpsza, der in seinem Buch „Pole, wer bist diu?“ eine scharfsinnige und durch keinerlei politische Rücksichtnahme gefärbte Analyse der heutigen Situation Polens versuchte, wurde kurzerhand des Landes verwiesen.

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