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Giftnebel

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Auch die Russen fangen jetzt an, ihre Vergangenheit zu bewältigen. „Der giftige Nebel löst sich auf, unter diesem Titel veröffentlichte das Reformblatt .Moskauer Nachrichten“ einen detaillierten Bericht über die Ermordung führender Kommunisten durch Stalin in den dreißiger Jahren.

In seiner letzten Nummer schreibt der Spiegel“ über diese Folgen der Perestrojka und beantwortet auch die selbstgestellte Frage, warum die Angeklagten dieser stalinistischen Schauprozesse vor rund 50 Jahren sich in ihren Geständnissen wahren Orgien der Selbstbeschuldigung hingaben. Die Antwort gebe George Orwell, heißt es. In seinem Roman ,J984“ schildere er Foltermethoden, die selbst den Standhaftesten gebrochen hätten.

Das stimmt nur zum Teil. Natürlich wurde in stalinistischen Gefängnissen brutal gefoltert, aber für den „harten Kern“ dieser Angeklagten gab es oft auch andere Motive, und die schildert Arthur Koestler in seinem Roman Sonnenfinsternis“, der 1940 erschien. George Orwell schrieb ,J.984“ unter dem Eindruck dieses Buches.

Rubatschow, der ,Jleld“ in Sonnenfinsternis“ ist eine Mischung aus Leo Trotzki und Karl Radek. Er kennt als Revolutionär nur ein einziges moralisches Kriterium — das der sozialen Nützlichkeit: „Wer unrecht hat, muß bezahlen; wer recht behält, wird freigesprochen... Aber wer letzten Endes recht behält, stellt sich erst später heraus. Inzwischen müssen wir auf Kredit handeln und unsere Seele dem Teufel verkaufen in der Hoffnung, daß uns die Geschichte die Absolution erteilt.“

Diese Art von Revolutionären machte ihre Geständnisse in der Uberzeugung, daß dies der letzte Dienst war, den sie der Partei und der Revolution leisten könnten. Dafür opferten sie mit dem Leben auch noch ihre Ehre.

Die .Jiubatschow-Theorie der Geständnisse“ war in den fünfziger Jahren Gegenstand einer langen öffentlichen Kontroverse; Koestler, der einstige Kommunist, der sich allmählich zum „pessimistischen Konservativen“ wandelte, wurde von Genossen beschimpft und auch physisch bedroht.

„Der einzelne ist nichts — die Partei ist alles.“ Ganz vorbei ist sie ja nicht, diese Ideologie. Daß der Zweck der Einheit jedes Mittel heilige, taucht als Versuchung für Machthaber verschiedenster Kaliber und Institutionen immer wieder auf. Der Versuch der Vergewaltigung von Gewissen gehört dazu. Das Gift dieser Nebel ist nicht so stark wie einst.

Aber man riecht's.

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