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Giscard im Gegenwind

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Frankreichs Staatspräsident Valėry Giscard d’Estaing steht im Gegenwind. Trotz aller Bemühungen ist es ihm nicht gelungen, seine Popularitätskurve anzuheben. Gegenwärtig ist in der öffentlichen Meinung nur geringe Bereitschaft vorhanden, den Regierungsstil Giscards zu respektieren und ihn als positiv einzuschätzen. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Die Kurve ist bedenklich unter die 50-Pro- zent-Marke gesunken. Seit seiner Wahl geschieht es zum ersten Mal, daß jene sozialen Schichten, die Giscard 1974 gewählt haben, mit beängstigender Skepsis die Handlungen, Vorschläge und Reformwünsche des ersten Staatsbürgers verfolgen.

Giscard d’Estaing und Raymond Barre waren und sind sich vollkommen dessen bewußt, daß die Reformen auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene nur dann von Erfolg begleitet sein können, wenn die direkt Betroffenen den ausdrücklichen Willen haben, vorübergehend Opfer zu bringen, um eine Stabüisierung der wirtschaftlichen Situation herbeizuführen. Es ist selbstverständlich, daß Giscard in erster Linie die Verantwortung trägt, die ihm gemäß der gaullistischen Verfassung zukommt. Mit dieser Feststellung gelangt man jedoch zu einem der wesentlichen Faktoren des gesamten staatlichen Lebens. Das Grundgesetz räumt dem Staatschef größere Rechte ein als sie einstmals den französischen Königen zukamen. Seitdem General de Gaulle die in Kraft stehenden Institutionen geschaffen hat, kommt es immer wieder zu Diskussionen über die eigentliche Natur des derzeitigen französischen Regimes, das royalisti- sche, vor allem aber bonapartische Züge trägt. Diese Debatte ist keineswegs abgeschlossen und wird 1977 großen Umfang annehmen. Denn die Frage ist nicht von der Hand zu weisen, wie weit der liberale Giscard d’Estaing, der seiner Mission treu bleiben will, mit einer neuen Kammermehrheit Zusammenarbeiten müßte, die möglicherweise aus den Linksparteien besteht.

Frankreich tritt in die Periode eines lang andauernden Wahlkampfes ein. Als Vorbereitung auf die 1978 fällige Erneuerung des Parlaments, werden die Bürger im März dieses Jahres an die Urnen gerufen, um die Bürgermeister und Gemeinderäte zu bestellen. Alle bisherigen demoskopischen Untersuchungen bestätigen einen Trend zur sozialistischen Partei, während die Kommunisten kaum mit einem größeren Zuwachs rechnen können. Kommt es also zu Beginn des Frühlings zu einer Sturmflut seitens der linken Opposition, so müßte Giscard das Parlament auflösen und noch in diesem Jahr Neuwahlen ausschreiben.

Allerdings sind weder die Mehrheit noch die Opposition in der Lage, geschlossen aufzutreten und sich den Wählern unter den besten Aspekten zu präsentieren. Die Majorität leidet noch immer unter Mißtrauen und Neidgefühlen. Gegenwärtig weiß man nicht recht, wer der eigentliche Chef dieser Mehrheit ist. Gemäß der Tradition steht es dem Ministerpräsidenten zu, sich als Führer der Majorität zu fühlen. Aber der Staatspräsident hat mehrfach in die Wahlvorbereitungen eingegriffen und dadurch die Schiedsrichterfunktion Raymond Barres in Frage gestellt. So etwa hat der Elysėepalast direkt einen Kandidaten für den Posten eines Bürgermeisters von Paris ausgewählt und diese Aufgabe nicht dem Regierungschef überlassen.

Raymond Barre, dessen einziges Ziel es sein dürfte, die von ihm entwik- kelten Reformen durchzusetzen, hat bisher wenig Neigung gezeigt, sich in die aktive Parteipolitik zu stürzen. Der Präsident der neuen gaullistischen Bewegung RPR, Jacques Chirac, ließ seine Absicht durchschimmern, über die Grenzen der eigenen Partei hinaus sämtliche Mehrheitsgruppen in diesem sicherlich heftigen Kampf zu füh ren. Vieles hängt vom loyalen Verhalten Jacques Chiracs gegenüber dem Staatspräsidenten ab. Wird er sich den Beschlüssen, die aus dem Elysėepalast kommen, beugen? Sicherlich ist das RPR die dynamische Komponente von Giscards Majorität.

Bei der Opposition wird auch nur mit Wasser gekocht. Obwohl sich die Beziehungen zwischen Sozialisten und Kommunisten nun wieder positiver entwickelt haben, müssen die Generalstäbe der beiden Linksparteien bei der Aufstellung einheitlicher Kandidatenlisten zahlreiche Schwierigkeiten überwinden. So ist es Mitterrand und Marchais noch nicht gelungen, sich in Paris jene Plattform zu schaffen, die ein einheitliches Vorgehen gestattet. Auch der populäre Bürgermeister der zweitgrößten Stadt Frankreichs, Marseille, verzichtete auf eine Kandidatenliste, die sich aus Sozialisten und Kommunisten zusammengesetzt hätte. Gaston Defferre, der dem rechten Flügel der Sozialisten angehört, will die Schlacht in seiner Hafenstadt allein schlagen. Nach wie vor lehnen es zahlreiche Sozialisten ab, die Ehe mit der KPF zu konsumieren. Ganz wenige von ihnen aber zogen daraus die Konsequenz und gründeten eine sozialdemokratische Partei, die als ihr Modell ausdrücklich die deutsche SP nennt. Doch konnte diese neue sozialdemokratische Partei nicht die Massen jener Unzufriedenen auffangen, die seit Monaten mit dem Gedanken spielen, ihre Stimme nicht mehr dem RPR, den Unabhängigen Republikanern oder der Partei Leca- nuets zu geben, sondern der authentischen sozialistischen Gruppe, als deren Wortführer weiterhin Mitterand auftritt.

Wenn man also eine Prophezeiung über die Entwicklung während der nächsten Monate in Frankreich wagen will, so muß man zwei Momente in den Vordergrund rücken: den Erfolg oder Mißerfolg des Reformplanes von Barre und den Ausgang der Kommunalwahlen. Bis gegen Ende des Vorjahres konnte der gequälte französische Steuerzahler kaum feststellen, daß die Inflation eingedämmt und die Arbeitslosigkeit vermindert worden wäre. Einige Anzeichen zu Beginn dieses Jahres lassen jedoch darauf schließen, daß es Raymond Barre gelungen ist, die Inflation zu dämpfen und der Bevölkerung ein wenig Hoffhung zu machen. Auch sehr kritische Bürger müssen anerkennen, daß gegen Einzelhandelsgeschäfte und Dienstleistungsbetriebe, die mißbräuchlich ihre Preise erhöht hatten, scharfe Sanktionen ergriffen wurden. Die Senkung der Mehrwertsteuer von 20 auf 17,6 Prozent dürfte das ihrige dazu beitragen, daß bei etwa einem Drittel der angebotenen Waren die Preise sich um mindestens zwei Prozent vermindern.

Diese Beruhigung auf dem Preissektor ist außergewöhnlich wichtig, da sie das einzige Mittel ist, die Gewerkschaften davon abzuhalten, auf die Barrikaden zu steigen. Die Arbeitnehmerorganisationen verhalten sich, im Gegenteil, recht zahm, um den Wählern keine Angst einzujagen. Aber was geschieht, wenn, entgegen allen Meinungsumfragen, die Regierungsparteien die Kommunalwahlen überstehen, ohne viele Federn zu lassen? Nach einer solchen Frustrierung werden die linken Gewerkschaften wohl, das kann als sicher angenommen werden, soziale Krisen größeren und größten Stiles auslösen.

Noch gibt sich Giscard siegessicher. Auf seiner ersten Pressekonferenz seit Monaten rühmte er vor 300 Journalisten, das abgelaufene Jahr habe den Franzosen das stärkste wirtschaftliche Wachstum aller Zeiten gebracht. Der Barre-Plan werde unverändert weitergeführt. Die Lage beginne sich zu stabilisieren.

1976 sei für Frankreich ein schwieriges Jahr gewesen, gab der Präsident zu. Ein Teil der Franzosen habe sich aber zu Unrecht in eine „Spirale der Depression“ hineinreißen lassen. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und gegen die Inflation sei heute in Frankreich gleich wichtig. Die Auswirkungen des Barre-Planes würden erst im zweiten Halbjahr 1977 in vollem Umfang ermessen werden. Wird es genügen, um Giscard 1978 wieder die Mehrheit zu sichern?

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