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Glanz und Elend der Ratio

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Daß sich die Aufklärung, „Les Lumigeres", „Enlighte-ment" heutzutage nicht immer unbeschränkter positiver Beurteilung erfreut, ist kein Geheim-, nis. Vor allem die Vernunft, auf die sie sich beruft, scheint gründlich in ihrer Wirksamkeit und Reichweite zerzaust. Vom Nachweis ihrer geheimen Dialektik (bei Hörckheimer-Adorno) über mannigfache Gegenaufklärungen, von der „Aufklärung über die Aufklärer" (bei Luhmann) bis zum Eingeständnis ihrer Perversion zur „zynischen Vernunft" (bei Sloterdijk) reicht die Palette der Skepsis, ganz zu schweigen vom kirchlichen Mißtrauen ob ihrer antiklerikalen, wissenschaftsgläubigen und gelegentlich auch flach rationalistischen Attitüde.

Nun ist freilich — so manches von den inbrünstigen Vernunftshoffnungen des 18. Jahrhunderts gründlich herabgekommen und vom Lauf der Geschichte Lügen gestraft worden. Dennoch sollte man nicht vergessen, daß vieles von jenen Errungenschaften, derer sich unsere demokratischen Gesellschaftssysteme erfreuen, auf die Aufklärung zurückgeht, und daß unsere kulturelle Entwicklung ohne diese Aufbruchsbewegung des 18. Jahrhunderts nicht zu denken ist.

Vor zweihundert Jahren ist einer der bedeutendsten Köpfe der Aufklärung, Denis Diderot, gestorben. Ehrlicherweise sollte man zugeben, daß außer der Assoziation mit dem erstaunlichen Werk der großen „Encyclopedie", die ein Bild des gesamten menschlichen Tuns, Wissens und Könnens ihrer Zeit zu geben versuchte, man kaum noch etwas von diesem vielseitigen, nahezu universalen Genius weiß, der ebenso schlüpfrig-frivole Romane wie erstaunliche Abhandlungen zur Mechanik, zur Geometrie, zur Physik, aber auch zur Philosophie und Theologie verfaßte.

Seine nahezu unerschöpfliche Vielseitigkeit, die freilich auch aus dem Geist der Zeit zu begreifen ist, hat ihm ermöglicht, mehrere tausend Seiten dieser Enzyklopädie eigenhändig und im Alleingang zu verfassen, wobei ihm ansonsten alles, was Rang und Namen unter den Aufklärern hatte, als Mitarbeiter zur Verfügung stand: Voltaire, Rousseau, Montesquieu, Holbach, Condillac, Concordet, — um nur die klangvollsten Namen anzuführen. Das Werk erreichte auch die beachtliche Auflage von 30.000 Exemplaren und wurde damit gleichsam zum Verkaufsschlager der Aufklärung.

Diderots Vielseitigkeit verdankt sich — so antiklerikal auch seine Schriften gelegentlich waren — einer religiös-theologischen Erziehung. Der 1713 in der französischen Provinz, in Langres als Sohn eines Herstellers medizinischer Instrumente geborene Diderot wurde zunächst zum Priester bestimmt und lernte an den gegensätzlichen Schulen der Jan-senisten und Jesuiten in Paris gründlich die Theologie und religiöse Haltung seiner Zeit kennen.

In den Salons des Ancien Regime machte er sich bald durch seinen Geist und Witz einen Namen, und geriet früh in den Ruf eines radikal-materialistischen und atheistischen Feuergeistes. Besonders die Zusammenarbeit mit dem fanatischen Materialisten Holbach sorgte dafür, daß seine antiklerikalen Ausfälle auch politisch interpretiert wurden. Die sensualistisch-materialistische Schrift „Briefe über die Blinden" trug ihm sogar 100 Tage Festungshaft ein.

Geschickt seine eigene Religiosität betonend, trat er vehement gegen den Obskurantismus und Dogmatismus der Kirche auf und attackierte klerikale Mißstände unbarmherzig. Der 1760 entstandene Roman ,Die Nonne' trat vor allem gegen das klösterliche Leben auf und verriet genauso wie seine naturphilosophischen Traktate streng auf Vernunft gegründete Prinzipien.

Das Recht auf ein glückliches Leben, für das Diderot eintrat, ist zur ständigen Parole aufklärerischer Bewegungen geworden. Vieles an seinem Eintreten für Freiheit und menschenwürdiges Dasein mag uns heute obsolet anmuten — dennoch ist seine Sicht auf den Menschen und auf die Welt frischer und ursprünglicher als so manche biologistische oder rationalistische Thesen der Gegenwart, die alles in allem nur einen dünnen Aufguß aufklärerischer Gedanken darstellen.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Universität Wien.

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